Das Bergdorf

Sie parkten den Bulli am Eingang des Bergdorfes, wo sie von einem Mann abgeholt wurden. Zum Haus mussten sie laufen.
„Camminare“, sagte der kleine, dünne Herr mit den lachenden Augen und klopfte Leora auf die Schulter. Thea und Joachim luden die Koffer aus. Leora bekam einen schweren Rucksack auf den Rücken, und Arne bestand darauf, einen großen gelben Koffer zu tragen, der fast größer war als er selbst. Doch kaum hatte er ihn in den Händen, nahm der Mann ihm den Koffer ohne ein Wort ab. Arne ließ es geschehen und nahm stattdessen den Esskorb, den ihm Thea reichte.
Die alte Gasse war kühl und roch nach feuchtem Stein. Ein Hund bellte in der Ferne. Eine alte Frau, die ihre Blumen auf der Straße goss, rief ihnen ein freundliches „Buona sera“ zu. Sie zwickte Arne in die Wange. „Bel bambino!“, rief sie ihm nach. Arne wischte sich über die Wange.


Vor einer alten Holztür zog der Mann einen großen Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Das Haus war schmal und hoch. Noch nie hatte Leora so schmale Häuser gesehen. Der Mann schaltete das Licht an.
„Prego“, sagte er und trat zur Seite.
Die Wände leuchteten weiß.
„Piccobello“, rief Arne und bekam seinen Mund nicht mehr zu. Nun wurde er auch von dem kleinen Mann gezwickt.
„Prego“, sagte er noch einmal und führte sie in den ersten Stock zum Wohnzimmer und weiter in den zweiten, wo das Bad und die Schlafzimmer lagen. Das Kinderzimmer war so eng, dass gerade einmal ein Doppelbett hineinpasste.
„Ich schlaf oben!“, rief Arne sofort. Leora zuckte mit den Schultern.
Im Bad entdeckten sie ein seltsames niedriges Waschbecken.
„Bidet“, erklärte der Mann.
„Was macht man mit einem Bidet?“, fragte Leora skeptisch.
Joachim beugte sich zu ihr. „Man wäschst sich den Popo“, flüsterte er.
Leora runzelte die Stirn. Also war das hier ein feines Haus. Weiße Wände und ein extra Waschbecken nur für den Popo!


Als der Mann gegangen war und sie wieder unten in der Küche standen, rief Joachim Arne und Leora zu sich.
„Die weißen Wände sind ein Problem“, mahnte er. „Sie müssen so bleiben. Keine Nutella, keine Erde, keine Farbe. Selbst mit frisch gewaschenen Händen. Fasst die Wände auf keinen Fall an!“
Denn sollte etwas passieren, sei ein Neuanstrich nötig. Und der wäre teurer als ein neuer Auspuff für den VW-Bus. So teuer, dass sie jahrelang nicht mehr in den Urlaub fahren könnten.
Leora erstarrte. Wie sollte sie es schaffen, nichts zu berühren. Selbst die Sofas und der Fußboden waren strahlend weiß.
„Wie sollten die Sofas mit Handtüchern abdecken“, meinte Thea und lief ins Badezimmer.
Die anfängliche Begeisterung über das schmale, hohe Haus war verflogen. Die Treppen durften nicht als Klettergerüst benutzt werden und das Sofa war eine noch größere Gefahr, die man besser mied.
Leora kramte in ihrer Tasche, um Buntstifte zu suchen.


Da klopfte es an der Tür. Joachim öffnete. Eine Gruppe Kinder stand draußen. Sie stellten eine Frage, die weder er noch Leora oder Arne verstanden. Die Kinder gestikulierten wild, winkten sie heraus.
Leora und Arne ließen sich nicht zweimal bitten.
Das Ferienhaus gefiel ihnen ohnehin nicht mehr.

Der Platz war voller Leben. Jemand hatte einen Kassettenrekorder mitgebracht. „Disco!“, rief ein Junge begeistert. Über ihnen zog eine Frau mit einer langen Schnur Wäsche von einem Haus zum anderen.
Die Musik wurde aufgedreht. Berry White, Adriano Celentano, Pink Floyd.
Die Kinder tanzten, klatschten, riefen „bravo!“ und „brava!“. Sie zogen Leora und Arne in ihre Mitte, wirbelten um sie herum.
Es wurde dunkel und die Kinder mussten nach Hause. Aber später, nach den Essen, sollten sie zur Kirche kommen.
Aufgeregt rannten Leora und Arne zurück. Beim Abendbrot erzählten sie von der Disko und der Kirche.
„Geht ruhig alleine,“ sagte Thea.
„Hier ist es ungefährlich“, bestätigte Joachim.
So liefen sie in der Dunkelheit zur Kirche. Zu Hause hätten keine zehn Pferde sie dorthin bekommen, aber hier war alles anders.
Dichter Weihrauchnebel lag in der Luft. Kerzen flackerten. Die ersten Dorfbewohner tauchten auf. Dann füllte sich die Kirche. Die Menschen sangen melodische Lieder, ihre Stimmen verschmolzen und hallten nach, hoch oben in der Kuppel. Ganz vorne, neben dem Priester, standen zwei Kinder, die sie vom Tanzen kannten. Jetzt trugen sie feierliche Gewänder.

Am nächsten Tag standen die Kinder mit Fahrrädern vor der Tür. Leora und Arne zogen mit ihnen los. Die Kinder rasten einen steilen Hang hinunter, bremsten abrupt, dass die Reifen quietschten.
Leora war an der Reihe. Sie setzte sich auf das Rad. Doch als sie hinunterraste, stellte sie panisch fest, dass es keine Rücktrittbremse hatte. Das Fahrrad wurde immer schneller.
„Frena!“, riefen die Kinder. „Frena!“
Leora verstand nicht, sie suchte nach der Bremse.
Dann kam der Stacheldrahtzaun.
Nicht weinen, befahl sie sich, Fassung bewahren.
Die Kinder rannten zu ihr. Sie lächelte ihnen zu. Fassung.
Lachen, bevor die anderen lachen. Aber niemand lachte.
Ein Mädchen schlug die Hände vors Gesicht.
„Madonna“.
Andere streichelten sie vorsichtig, halfen ihr auf.
Ihre Beine brannten. Blut lief an ihnen herunter.

An der Tür empfing Thea sie. Sie legte Leora auf den Küchentisch.
Die Kinder warteten draußen. Joachim holte das Verbandzeug aus dem Auto.
Nach der Behandlung betrachtete Leora sich im Spiegel. Sie sah verwegen aus.
Am Nachmittag klingelten die Kinder wieder. Sie setzten sich mit ihr vor die Tür. Zwei Kinder hielten ihre Hände. Gemeinsam sangen sie italienische Lieder.
Jetzt wusste Leora es.
Sie würde auswandern, sobald sie alt genug war.

Heimweh oder Fernweh

Habt ihr eher Heimweh oder eher Fernweh? Ein Thema meines neuen Romans, der 1990 spielt und vom Auswandern handelt. Fremd sein, nicht die Sprache verstehen, aber auch Abenteuer. Hier ein kleiner denkwürdiger Auszug des Aufbruchs:

Eine laute sizilianische Familie stieg ein und breitete sich im Abteil aus. Die alte Frau, vielleicht die Oma, packte ein Abendessen auf einer Picknickdecke aus, verteilte es an zwei Mädchen, einen Mann und eine Frau, beide Mitte dreißig.

Sie luden Leora zum Essen ein. Für die gesamte Reise bis Florenz gehörte sie nun zu ihrer Familie. Sie schenkte den Mädchen jeweils ein Überraschungsei, zog Wolle aus ihrem Rucksack und flocht ihnen bunte Haarsträhnen.

Dass sie nach Italien ziehen wollte, verstand die alte Frau nicht.
Hast du keine Angst vor … ? Sie sagte zuerst – nostalgia di casa, dann – Heimweh.

Heimweh? Nein. Eher nostalgia di lontano, antwortete Leora auf gestammeltem Italienisch. – Fernweh.
Es plagte sie schon seit Monaten. Endlich war sie unterwegs.

– Unter Fernweh kann ich mir nix vorstellen, sagte die Frau. – Nur Heimweh, das ist eine ganz schlimme Krankheit der Seele.

– Fernweh hat man, wenn man weit weg möchte, erklärte Leora. – Die Freiheit spüren.

– Ach was! Sie fuchtelte mit den Händen. – Warum gehst du weg aus so einem guten Land? Man verdient gut, keine Korruption, alles ordentlich.

– Zu ordentlich, sagte sie. – Und in Deutschland gibt es auch Korruption.

Die Frau neigte den Kopf und sagte: – Andere Länder, andere Sitten. Wir haben Heimweh, ihr habt Fernweh. Dabei schlug sie Leora kumpelhaft auf die Schenkel. – L’Italia è la più bella, was?

Arsch mit Bolognese Sauce

Hier ein kleiner Ausschnitt aus meinem neuen Projekt: ein Coming-In-Age-Roman, Anfang der 90er in Perugia. Eine Geschichte vom Auswandern.

Warum ich euch gerade diesen Teil vorsetzte? Es ist ein Ratespiel. Wer errät die meisten Begriffe, mit denen man online geblockt werden kann? Ich hatte versucht, den Text einer Schreibfehlerkontrolle auf KI zu unterziehen, aber er wurde geblockt.

Warum? Ja, das ist nun eure Aufgabe. Dreimal hintereinander habe ich im Chat angefordert, die Anstößigkeiten herauszunehmen. Was dabei herauskam, war beeindruckend. Nie hätte ich all diese Ausdrücke als anstößig definiert, oder sogar: … oh, mein Gott… Als wären wir noch im Biedermeier.

Also, wer macht mit? Schreibt alle anstößigen Wörter, die ihr im Text findet, in die Kommentare. Den korrigierten KI-Text bekommt ihr dann gepostet, nachdem ich hier ein paar Kommentare sehe. Legt los, Leute.

Als sie von dieser Nacht zum Studentenheim zurückkehrte, kam ihr Bruder ihr auf dem Gang entgegen. Er hatte auf der Toilette übernachtet, weil er seinen Schlüssel vergessen hatte. Im Zimmer bombardierte er sie mit Kartoffeln und brüllte:

„Du alte Sau, warum bin ich überhaupt mitgekommen, wenn du mich immer alleinlässt.“
„Das nächste Mal kommst du mit.“
„Schwör.“
„Ich schwöre. Trotzdem bist du für deinen Schlüssel verantwortlich.“


Arne schoss noch eine Kartoffel in ihre Richtung. Es klopfte an der Tür. Leora öffnete. Die Hausmeisterin, eine kleine Frau mit blond gefärbter Dauerwelle, sah sie mit erhobenem Finger an. „Silenzio“, zischte die Frau. „Silenzio“.
„Va bene, scusi“, sagte sie und schloss die Tür wieder.


Arne lachte laut los. „Du alte Sau“, sagte er wieder mit Tränen in den Augen. Es klopfte erneut. „Jetzt machst du auf“, sagte sie. Er schlenderte zu der Tür.
Ein junges Mädchen mit einem Teller Spaghetti Bolognese stand in der Tür.
Arne bedankte sich. Sie sagte nur: „See you later.“
„Wo kommt die denn her?“
„Das ist Tatjana aus Slowenien.“
„Und warum kocht sie dir morgens Spaghetti?“
„Weil ich sie gerne esse.“
„Nee. Du Spinner. Hier sitzt so eine Frau und kocht dir morgens Spaghetti Bolognese und du beschwerst dich über mich.“
Er aß genussvoll seine Nudeln und hockte auf seinem Bett wie ein Pascha.
„Wenn ich eine Sau bin, Alter, dann bist du eine doppelte scheiß Sau.“
Er lachte wieder los und verschluckte sich.
„Habt ihr schon?“
„Nur Petting.“
„Echt jetzt?“
„Ja, gestern Abend, aber als sie gegangen ist, musste ich aufs Klo und dann hatte ich meinen Schlüssel vergessen.“
„Alter, du bist echt bescheuert. Warum bist du nicht zu ihr?“
„Ich weiß nicht, wo ihr Zimmer liegt und glotz mich nicht an wie einen Idioten. Willst du noch ne Kartoffel?“
„Du Arschsau mit Bolognese Sauce“, sie lachte los. Er lachte mit. Sie lachten so lange, bis ihnen alles weh tat.

  1. Exakt. Und bombardieren darf man auch nicht schreiben, genauso wenig schießen, auch wenn es nur Kartoffeln sind. Krieg machen überall,…

  2. Oha! Wir sind zurück im Biedermeier. Arsch, Klo, Sau, Petting und Scheiß stehen auf dem Index. Und vermutlich noch ein…

  3. An den 09. November 1989 kann ich mich auch lebhaft erinnern. Liebe Grüße

  4. Timo Fischer zu WIR

    Ich freue mich schon auf den Roman. Die Leseproben klingen sehr gut und ich werde mir den Roman „Anti“ auf…

Lesung am 20.10 in Hamburg

Am 20.10. werde ich in Hamburg mal wieder aus meinem Debütroman „Anti“ lesen, wo es um eine antiautoritäre Kindheit in den Siebziger Jahren im Ruhrpott geht. Der kurze Roman ist aus der Sicht der sieben bis zehn jährigen Maja geschrieben, die in vier verschiedenen Welten zurechtkommen muss.

Ich bedanke mich ganz herzlich bei Christine Sterly-Paulsen für die Einladung zum „Abend Literatur und Film zum Thema Kinderrechte“

Ort: Café Why Not, Daimlerstr. 38, 22763 Hamburg

Zeit: 20.10.2024 um 19 Uhr

Einstieg: Zwei Kurzfilme zum Thema von DREH DEINEN FILM! e.V., „Systemfehler“ und „Das Kinderparlament“

Es lesen: Christine Sterly-Paulsen aus „Gegenliebe“ (2021), dystopischer Roman einer Welt, in der Kinder verboten sind

Gabriel Bornstein aus dem noch unveröffentlichten Roman „Roter Teppich“, Geschichte einer Kindheit auf St. Pauli

Gastautorin Lisei Luftvogel aus Ferrara liest aus dem Roman „Anti“ (2023), eine antiautoritäre Kindheit in den siebziger Jahren im Ruhrgebiet

Theorie entsteht in der Entfremdung

Auseinandersetztung mit Onur Erdurs Werk Die Schule des Südens – Die kolonialen Wurzeln der französichen Theorie.  

Von Lisei Luftvogel

Das neue Buch des Kulturwissenschaftlers und Historikers Onur Erdur „Schule des Südens“ gab mir eine Vielzahl von Denkanstößen.

Global kann man das mit Erdurs Aussage zusammenfassen „Es gibt einen Süden der Theorie.“

Das gilt natürlich nicht nur für die von ihm erforschte French Theory, den französischen Poststrukturalismus, die Theorie der Postmoderne oder der Dekonstruktion, sondern kann auch beispielgebend für viele andere Denkrichtungen gelten, die die westliche Kultur geformt haben. Ich könnte sogar behaupten, dass bis vor kurzem die Denker des Abendlandes von anderen Kulturen lebten und profitierten, sich Vieles aneigneten, ohne anzugeben, woher sie es hatten. Oft wurde scheinheilig auf das eigene Genie hingewiesen, als seien es Eingebungen, vor allem wenn es um Kulturen und Denken ging, die nicht aus dem weißen Europa stammten. Ich habe es selbst in meinem Philosophiestudium erfahren, wie viel von den Chinesen, Japanern, Arabern, Indern … geklaut wurde, das fällt natürlich nur auf, wenn man sich auch mit anderen Kulturen auseinandersetzt und diese nicht als minderwertig beurteilt.

Onur Erdurs Forschungsarbeit hat mich zur Reflektion angeregt. Ich finde es erschreckend, wie unreflektiert wir über die Kolonialzeit hinwegsehen, vieles immer noch in den Köpfen der Leute schlummert und heutzutage wieder als furchterregender Rassismus hochkommt, oder immer schon da war, nur unterschwelliger. Ich finde es auch erstaunlich, für wie lange der Film von Gillo Pontecorvo, „die Schlacht von Algier“ in Frankreich verboten war und ebenso der Film „Löwe der Wüste“ in Italien, der den italienischen Kolonialismus in Libyen anprangert. In beiden Ländern ist die Aufarbeitung zum eigenen Kolonialismus eher schleppend.

Der Kulturwissenschaftler Onur Erdur beleuchtet in acht Portraits französische Denker und eine Denkerin, die die französische Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten. Alle hielten sich entweder in den nordafrikanischen Kolonien auf, mache wurden dort geboren, erlebten dort kreative Momente oder wurden in ihrer Persönlichkeit durch den Algerienkrieg geformt. Dieser Krieg, über den man in Frankreich lange schwieg, so auch einige der von Erdur dargestellten Denker, und die Erfahrung der Dekolonisierung, hat einen einschneidenden Einfluss in der Französischen Gesellschaft hinterlassen, Erdur behaupt sogar, einen tieferen als die Studentenunruhen im Mai 68, was ich nachvollziehend finde. Obwohl, so scheint es mir jedenfalls, diese Epoche von den meisten Menschen immer noch nicht bewusst reflektiert wird, tun es die von Onur Erdur acht Denker*innen alle auf mehr oder weniger bewusste Weise.

„Theorie entsteht nicht in einem luftleeren Raum“, behauptet Erdur „sondern immer in lokalen, historischen und individuell erfassten sozialen Kontexten.“

Pierre Bourdieu kam als Soldat nach Algerien und erfuhr dort die Gewalt und Ungerechtigkeit der französischen Besatzung gegenüber der algerischen Bevölkerung. Er blieb später dort, fuhr in die Dörfer und erforschte die anwesenden Gesellschaftsstrukturen. Sein Werk Sociologie de l’Algérie fand Anstoß bei der damaligen reaktionären Gesellschaft der Algerienfranzosen, die sich als höhere zivilisierte Menschen wahrnahmen gegenüber den Einheimischen, den Nicht-Bürgern, sondern nur Bevölkerung, kein Subjekt, nur Objekt, Masse. Interessant fand ich in diesem Portrait die Überlegungen Bourdieus zur Herangehensweise seiner Forschungsarbeit. Er als Fremder sieht die Dinge immer aus einem anderen Blickwinkel und immer als etwas Unvertrautes. Seine Sprache, auch im Sinne von Konzepten, ist eine Barriere für sein Verständnis oder vielleicht eine Möglichkeit für Neues? Es hinterließ in mir diese Ungewissheit, die auch Bourdieu zu haben schien, in seinen Forschungen in Frankreich und dann wieder in Algerien, wo er mit Hilfe seines algerischen Mitarbeiters Abelmalek Sayad seine wissenschaftliche Theorie zu erproben versuchte.  In seiner Heimatgegend in der Bretagne und Sayad seine Rolle einnehmen, um einen genauso fremden Abstand zu den Dingen zu bekommen. In Algerien findet Bourdieu seine Definition Habitus. Anhand seiner Studien zu den wirtschaftlichen Strukturen der kabyilischen Gesellschaft  erkennt er, dass diese Menschen keine kapitalistischen Strukturen übernehmen können, da grob ausgedrückt, ihre Gesellschaft auf Schenken basiert und für sie Kaufen unmoralisch ist, also die von den Franzosen aufgezwungenen Strukturen hier überhaupt nicht hinpassen. So passt hier ebensowenig  die marxistische Theorie vom Bauernstaat als revolutionäre Kraft, meint Bourdieu, da die Bauern in Algerien schon entwurzelt wurden und nach ganz anderen Kategorien leben. Hier meine ich zu erkennen, dass politische Gedanken und Strukturen immer auch geographisch und zeitlich ihre Bedeutung finden, aber anderswo wertlos sein können. So auch das Märchen der exportierten Demokratie. Bourdieu dokumentiert die Vertreibungen aus den kabylischen Dörfern, dem Lebensraum ihrer Bewohner. Erschreckend fand ich die Überhand der rechtsradikalen französischen Bewegung OAS im kolonialen Algerien, ihre Anwesenheit und Macht an den Schulen und Universitäten. Nachdem Bourdieus erster Assistent von der OAS erschossen worden war, flüchtete Bourdieu aus Algerien.

Auch bei Jean-Francois Lyotard entspringen die Ideen seines Denkens ursprünglich im Süden. Als er in Constantine als Lehrer arbeitet, erfährt er „die ganze Doppelbödigkeit dieser kolonialen Ideologie“, so Erdur. „Hier versuchte die Französische Republik mit allen Mitteln einigen jungen Algeriern“ (die Auserwählten – meine Anmerkung) „eine geliehene Kultur anzudichten, während ihre eigene, die Kultur ihres Volkes – ihre Sprache, ihr Raum, ihre Zeit – seit einem Jahrhundert französischer Besatzung verwüstet wurde und immer noch wird“, so zitiert Erdur Lyotard. Der Denker fand heraus, dass die Alphabetisierung mit der französischen Besatzung seit 1830 abgenommen und nicht zugenommen hatte. Daraus schließt Lyotard, dass die „großen Erzählungen“ und ihre Ideologien des Fortschritts und der Zivilisation keine Legitimation mehr haben.

Interessant fand ich die Gedankenakrobatik Lyotards zu seiner späteren Aktivität in Frankreich als klandestiner „Kofferträger“, der die FLN unterstützte, sie aber gleichzeitig als autoritär einschätzte und als Hindernis zur gewünschten Revolution sah. In seinen Schriften versucht er dieses Dilemma theoretisch zu lösen, indem er einen Unterschied zwischen Gerechtigkeit (die Unterstützung der FLN zur algerischen Unabhängigkeit) und Wahrheit (die kritische Analyse des Befreiungskampfes) machte, was ich irgendwie von Lyotard an den Haaren herbeigezogen finde. Vielleicht sollte man manchmal mit Paradoxen leben können. Oder es ist einfach nicht der passende theoretische Ansatz.

Roland Barthes blieb mir von allen acht Personen am Entferntesten. So sein dichterischer Geistesblitz in Marokko und der Aufenthalt in der Stadt Tangers, Ort der Beatniks und Drogenkonsumenten. Interessanter waren mir seine früheren Texte Mythen des Alltags aus den 50gern, in der er zum Beispiel über den Weingenuss der Franzosen räsoniert. Der gewöhnliche französische Tafelwein wurde im großen Mengen noch in den fünfziger Jahren in Marokko angebaut und „basierte auf massiven Bodenenteignungen“.

Michel Foucault ließ sich für zwei Jahre in dem Künstlerort Sidi Bou Said nieder. Dort, wo auch schon Baron und später Paul Klee und August Macke ihre inspirierenden Momente hatten. In Tunesien erfuhr Paul Klee seine kreative Erleuchtung. „Die Farbe hat mich“, schrieb er in sein Tagebuch (meine Anmerkung). In Sidi Bou Said verkehrt Foucault, außer für seine Liebesabenteuer, eigentlich nur mit europäischen Intellektuellen. Er bräunt sich und macht viel Sport. Er schreibt und arbeitet viel, aber nie über die Situation in Tunesien. „Das Thema des Kolonialismus wie auch des Neokolonialismus bleibt eine eklatante Leerstelle in Foucaults Werk“, schreibt Onur Erdur. Foucault war bei den Studentenprotesten 1967- 68 zwar anwesend, aber nicht besonders involviert, umso mehr mischt er ab Herbst 1968 in Paris mit. Aber hier ist er wieder unter Seinesgleichen, sage ich mal bösartig.

Mit Jacques Derrida, geboren als Jackie, und mit Hélène Cixous konnte ich mich besser identifizieren. Beide sind Opfer der Entwurzelung. Besonders absurd erscheint mir die Geschichte Derridas, der von einer sephardischen Familie abstammt, dessen Urahnen von der spanischen Inquisition geflüchtet sind. Wohlbemerkt war das vorherige Al-Andalus Teil eines riesigen Reiches und einer Hochkultur, die auch die griechische Philosophie tradiert und erhalten hat. Ein Reich, das geographisch gesehen dem hellenistischen Griechenland ähnelte. Derridas Familie lebte wohl Jahrhunderte in Algerien und nur weil irgendwann die französische Besatzung Juden als Bürger Frankreichs definierte, war auch er Franzose. Ein Franzose, der mit der Geschichte Frankreichs nichts zu tun hatte, aber in der Schule alles lernte, die Geographie, die Geschichte, die Ideologie. Er sprach Französisch, obwohl es nicht seine Muttersprache war. Er nennt es „Die Einsprachigkeit des Anderen“. Einen großen Schock erlebt er, als ihm als Jugendlicher während des Vichy Regimes die Staatsbürgerschaft entzogen wird und er nicht mehr das Gymnasium besuchen darf. Erdur reflektiert hier über die Entstehung der Dekonstruktions-Theorie und sieht, dass „Derrida in den 40ern selbst dekonstruiert wurde, als er die différance lange vor dem Konzept lebte.“

Lange sprach Derrida nicht über seine Erfahrungen in Algerien, umso mehr tat es Hélène Cixous, Mitbegründerin der Reformuniversität Vincennes. die als algerische Jüdin eine ähnliche Erfahrung wie Derrida machte, dies aber in ihrer frühen Kindheit, als sie aus dem Garten des Cercle militaire herausgeworfen wurde.

Besonders hervorheben möchte ich bloß Cixous’ Gedanken zur Herr-Knecht-Dialektik. Cixous sah, „dass sich die großen, edlen, fortschrittlichen Länder etablierten, indem sie das Fremde vertrieben, es ausschlossen,  es aber nicht abtaten, sondern versklavten.“ Die Hegelsche Dialektik ist für sie Teil des Problems, so Erdur, da sie als „Geschichte“, die „Geschichte der kapitalistischen Ausbeutung, der kolonialen Unterdrückung, des Patriarchats und des Eurozentrismus erst hervorbringe.“

Etienne Balibar und Jacques Ranciere erlebten den Algerienkonflikt als Studenten. Balibar wurde in Paris auf einer Demonstration gegen die Algerienpolitik Ende 1961 von der Polizei krankenhausreif geschlagen, Ranciere wurde zwar in Algerien geboren, aber wuchs in Paris auf. Beide sind nach dem Mai 1968 am Aufbau der Philosophieabteilung an der Reform-Universität von Vincennes beteiligt und beide hat auf verschiedene Weise ein Ereignis geprägt: In der Nacht des 16. Oktobers 1961 wurden von den französischen Sicherheitskräften rund 200 Menschen getötet. Es handelte sich um Algerier, oder besser um französische Algerier und nicht um algerische Franzosen (pieds noirs wie Camus). Viele von ihnen wurden in die Seine geworfen. „Die Ereignisse wurden tabuisiert und gerieten schnell in Vergessenheit“, so Erdur. Hingegen blieb ein weiteres Ereignis lange in Erinnerung, hier waren die Demonstranten aber junge Franzosen, Studenten, die gegen den OAS-Terror (die französisch-faschistische Vereinigung, die in Algerien wütete) demonstrierten: Am 8. Februar 1962 wurden 9 Menschen erdrückt oder zu Tode geprügelt.

Ranciere benutzte das Ereignis vom 16.Oktober 1961, um seine Desidentifikations-Theorie zu erklären. Er sieht sich als Pariser französischer Student der 60er Jahre nicht als Identität, sondern als Wir, einer Gruppe, die sich vom französischen Staat und seiner Politik desidentifiziert, aber er sieht auch keine Identifikationsmöglichkeit mit den Algeriern, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen, nimmt sie als Andere wahr. Er selbst gehört als revolutionäres Wir zu einem Dazwischen. Rancieres Theorie erscheint mir fragwürdig, da er sich mit seiner Gruppe wohl doch identifiziert, indem er sie als „wir“ beschreibt, auch wenn es keine nationale Identität ist, handelt es sich um eine kulturelle Identität der französischen studentischen Linken. In diesem Sinne ist es auch schade, dass er keine Verbindung zu den Algeriern findet, die auf einer anderen Ebene vielleicht doch eine gemeinsame Identität hätten finden konnten.

Ganz anders geht  Balibar damit um, als er  in den neugegründeten Staat Algerien geht, um in Algier als Dozent marxistische Philosophie zu unterrichten und zum pied-rouge wird (im Gegensatz zum Pied-Noir, Algerienfranzose während der Kolonisation). Ein interessantes Bild malt Onur Erdur von der Stadt der späten 60er Jahre, die er als Mekka der Revolutionäre beschreibt. Die unterschiedlichsten Gruppierungen und revolutionären Organisationen hatten hier ihre Stützpunkte, Befreiungsbewegungen von Namibia, Rhodesien, Mosambik, Kap Verde, Angola und Südvietnam, dazu rund zwanzig Organisationen wie die PLO von Jassir Arafat und der internationale Ableger der Black Panther. In jener Zeit wurde von Algier la Blanche (die Weiße) Algier la Rouge (die Rote).

In den 80ern veränderte sich auch das Klima in Frankreich und in den 90ern kam es in Algerien zu einem furchtbaren Bürgerkrieg und zur Herrschaft von islamistischen Milizen. Balibar setzte sich gegen den aufkommenden Rassismus ein, der sich erschreckenderweise auch immer mehr unter den Linken verbreitete. Wieder machte sich die Dialektik des Wir – die Anderen breit, wo wenig Dialog und Verständnis stattfindet. Die Tendenz ist auch heute noch anhaltend.

Zurück zu Ranciere, der Denker wird von Niklas Plätzer als „weißer französischer Philosoph“ gesehen, so Erdur. Sein Gleichheitsbegriff „verweise auf einen normativen Eurozentrismus, weil er eine ganz spezifische Emanzipationserzählung – die Geschichte von den auf Gleichheit pochenden weißen französischen Arbeitern – zum allgemeinen Merkmal von Politik überhaupt universalisiere. Differenzblindheit entstehe genau dann, wenn andere partikuläre Kämpfe aufgrund dieser unreflektierten Prämissen nicht gesehen werden können oder nicht recht ins Bild von Politik passen.“

Hier gehe ich nochmals zurück zu Bourdieu. Kann es nicht sein, dass die marxistische Theorie vom Arbeiter und Bauernstaat als revolutionäre Kraft, hier gar nicht funktionieren kann, da ganz andere Entwicklungen durchgemacht wurden, und ein anderes Denkschema funktionaler wäre?

Ich finde es traurig und schade, dass die Möglichkeiten des Verstehens und Verarbeitens hier nicht vollends ausgenützt wurden und stattdessen die heutige Tendenz immer weiter zum Verschließen eigener Identitätsgruppen führt. Die behandelten Denker*innen waren sicher Kinder ihrer Zeit und viele hatten aus diesem geschichtlichen Grunde ihre Limitationen, rausnehmen möchte ich hier gefühlsmäßig Cixous und Balibar und vielleicht auch Bourdieu. Mir fallen dazu die Männer der 68er Bewegung ein, die noch stark von ihrer Erziehung beeinflusst waren und so weder ihre Freundinnen richtig verstehen konnten, noch ihre Machtpositionen vollends aufgaben, obwohl sie es politisch verkündeten. Es lag immer etwas „dazwischen“, dieses „Andere“. Das Gender-problem war wie das Race-problem in den 60er und 70er Jahren erst als Diskurs im Embryostadium. Sicher braucht es noch viel Zeit und es gibt nur die Hoffnung, dass wir nicht allzu weit in die andere Richtung zurückgehen, uns wieder verfestigen in identitäre Sicherheiten, in reaktionäre Traditionen und in festgesetzte Männer-Frauen-Rollen. So sieht es momentan leider aus. Anstatt die Differenzen zu suchen, wäre es sicher hilfreicher gemeinsame Ansatzpunkte zu finden und gerade wir als europäische weiße Klasse, die immer noch die Welt beherrscht, wären an der Reihe mit mehr Offenheit den Anderen gegenüberzutreten und ihnen zuzuhören, versuchen uns in sie hineinzuversetzen. Anstatt dessen wissen wir Weißen der Ersten Welt immer alles besser und beurteilen die Dinge mit unseren festgefahrenen Kategorien. Es braucht viel Mühe und Feingefühl dort herauszukommen. Die Postkolonialen Studien und die Gender Studien machen vielen Menschen Angst, weil sie an ihrer Macht rütteln, die Vorherrschaft der alten weißen Männer. Je mehr sie bröckelt, desto aggressiver werden die Gegenbewegungen, der weiße, patriarchale Rassismus.

Nur im Untergang ist die Erlösung möglich, dachte Walter Benjamin, der den Angelus Novus von Paul Klee gekauft hatte, und ihn den Engel der Geschichte taufte. Dieser neue Engel starrt auf die Trümmer der Vergangenheit und wird vom Wind des Fortschritts weggeblasen. Immer mehr Trümmer häufen sich unter ihm und kein Halt ist möglich mit diesem fortschreitendem Wind.

Onur Erdur schließt seine Abhandlung mit folgenden Worten, die ich gern zitieren möchte: „In Was ist Philosophie? haben Gilles Deleuze und Felix Guattari eine, wie ich finde, bemerkenswerte Antwort gefunden, indem sie philosophische Positionen geopolitisch verorten, ohne dass sie einer nationalen Herkunftslogik zum Opfer fallen. Sie behaupten, dass die ersten Philosophen Fremde auf der Flucht waren und vom Rand der griechischen Welt nach Athen kamen. Als Emigranten wurden sie sich dort selbst fremd, ihrer Sprache und ihrer Nation. Im griechischen Milieu fanden sie zu dem, was Philosophie laut Deleuze und Guattieri im Kern ausmacht: Begriffe finden und erfinden, um die vorgefundene Welt um sich herum besser zu begreifen.“

Nur wenn wir uns selbst fremd werden und unsere Welt aus einem anderen Blickpunkt von außen betrachten, können wir neues Denken schaffen, da bin ich mit Onur Erdur ganz auf einer Linie und so haben es auch, jeder auf seine individuelle Art, bewusst oder unbewusst, die Denker*innen der Frensh Theory getan.

Zara auf der Suche

Rezension von Sabine Winkler

Themenreich, intensiv, einnehmend. Ich bin froh, dieses Highlight durch eine Leserunde kennengelernt zu haben.

Zara erfährt zufällig, dass ihr Vater Reinhard 1985 gar nicht bei einem Motoradunfall in Indien gestorben ist. Gleich einer Schnitzeljagd führt die Spur 2008 von Pisa und Berlin zunächst nach Damaskus, wo sich der Kriegsreporter aufhalten soll, und weiter nach Aleppo und Beirut. Im Nahen Osten trifft Zara immer wieder auf hilfreiche Menschen, mit denen sie in die Sprache und Kultur eintaucht. Gleichzeitig stellt sie sich Gerüchten und Halbwahrheiten über die Vergangenheit ihres Vaters: War er Kriegsreporter oder sogar in bewaffnete Konflikte verstrickt? 

Der „Der Doppel-Schreier“ behandelt vielfältige Themen wie Liebe, Freundschaft und Familie, aber auch Generationskonflikte, kulturelle Missverständnisse, ideologische Blendungen und deren Folgen. 

Der Titel des Buches wiederholt sich im Cover, auf dem das gleichnamige Bild von Paul Klee abgebildet ist, und dessen Thema – auch im übertragenen Sinn – sich durch das gesamte Buch zieht. Die Roadstory besteht aus vier Teilen, an deren Anfang immer ein Bild oder der Ausschnitt einer Landkarte bei der Orientierung hilft. Der Schreibstil ist bildhaft und voller Leben; man meint sogar die Hitze und die Gerüche der labyrinthischen Altstädte Syriens beim Lesen selbst zu spüren. 

Auch Zara und die anderen Charaktere sind sehr lebensecht gezeichnet und es fällt meist leicht, ihr Verhalten zu verstehen und ihr Tun nachzuvollziehen. Doch es sind nicht nur diese intensiven Beschreibungen, die das Buch so faszinierend machen. Zaras Reise besteht auch nicht nur aus einer tatsächlichen Bewegung von A nach B. Es geht vor allem auch um die Erarbeitung von politischen Konstellationen und Konflikten des Nahen Ostens, auch um die kulturellen Unterschiede und Besonderheiten, sowie um die Kunst des Orients; eigentlich allgemein um die Konfrontation mit anderen Kulturen und die verschiedenen Wertvorstellungen, darunter auch um die Stellung der Frau. Die Autorin wirft immer wieder auch philosophische Fragen auf, die Zara in den Gesprächen mit ihren Freunden vertieft, deren Beantwortung aber großteils bei den Lesern und ihren Gedanken darüber bleiben. Das Buch ist daher sicher keine Lektüre, die man einfach so nebenher lesen kann – oder überhaupt möchte, denn das Interesse daran entsteht wie von selbst durch eine Art Sogwirkung, die von der Geschichte auszugehen scheint. 

Und diese Geschichte verdient es daher, sich als Leser ausgiebig damit zu beschäftigen. Die vielfältigen Themen, die eingestreuten Musiktitel, die man Dank heutiger Technik sehr gut parallel beim Lesen mithören kann, die politischen Gegebenheiten der Gegenwart – oder eigentlich des Jahres 2008, in dem diese Reise erfolgte – deren Wurzeln in den Erinnerungen an Zaras Kindheit erläutert werden und nicht zuletzt Zaras ganz persönliche Geschichte – all diese Aspekte machen den Roman zu einem außergewöhnlichen und absolut lesenswertem Buch, das man sicherlich gerne auch öfter lesen möchte. 

Pressemitteilung Neuerscheinung Roman 

Der Doppel-Schreier, eine Nah-Ost-Roadstory

 

Der Doppel-Schreier, Ende Juni 2024 erschienen, entführt die Leser*innen in die faszinierende und komplexe Welt des Nahen Ostens. Mit Einblicken in historische Ereignisse und kulturelle Zusammenhänge bietet dieses Buch ein einzigartiges Leseerlebnis.

Lisei Luftvogel, geboren 1971 im Ruhrgebiet, bringt mit ihrem neuen Roman Der Doppel-Schreier eine Erzählung auf den Markt, die im Frühjahr und Sommer 2008 sowie mit Flashbacks in den 70er und 80er Jahren spielt. Der Roman führt die Leser*innen von Pisa und Berlin nach Damaskus und Beirut und behandelt Themen wie den Kalten Krieg, den Nahostkonflikt, linken Terrorismus und kulturelle Missverständnisse.

Die Geschichte folgt der Protagonistin Zara, die dreiundzwanzig Jahre nach dem vermeintlichen Tod ihres Vaters erfährt, dass dieser noch lebt. Ihre Suche nach der Wahrheit führt sie durch die labyrinthartigen Gassen der Altstadt von Damaskus bis in die Berge des Libanons. Auf dieser spannenden Reise wird Zara mit der komplexen Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert und muss sich den Herausforderungen ihrer eigenen Identität und Familiengeschichte stellen.

Neben einem riesigen Strauß von kulturellen, religiösen und sozialen Ereignissen im Vorkriegs-Syrien der 2000er Jahre vermittelt der Roman Einblick in die politische Situation im Nahen Osten. Angetrieben wird die Geschichte immer neu von den Verstrickungen einiger junger politisierter Europäer in den 70er und 80er Jahren und deren Folgen. 

Sowohl die unerwarteten Wendungen als auch Begegnungen dieser Suchreise sind packend erzählt. Die Sprache ist authentisch und die Beschreibungen detailliert. Das Motiv von Paul Klees „Doppel-Schreier“ verschiedener (Zwischen-)Welten gibt der Erzählung philosophische Tiefe. 

 

Über die Autorin:

Lisei Luftvogel, geboren im Ruhrgebiet und aufgewachsen in der linksalternativen Szene, hat eine bewegte Vergangenheit. Bereits als Kind reiste sie durch Europa und erlernte zahlreiche Sprachen. Ihre akademische Laufbahn führte sie nach Perugia, wo sie Philosophie, Anthropologie und Assyrisch-Babylonisch studierte, und später nach Venedig, wo sie Arabisch und Jiddisch lernte. Ihre Reisen nach Syrien und in den Libanon sowie ihre Erfahrungen in der linken Alternativszene ihrer Eltern und ihre Studien von Autobiografien und sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Geheimdiensten, Kriegen, Ideologien und deren Auswirkungen prägen ihre tiefgründigen und vielschichtigen Erzählungen.

Luftvogel lebt seit über zwanzig Jahren in Ferrara, wo sie als Deutsch- und Feldenkrais-Lehrerin tätig ist. Ihre umfassenden Kenntnisse und persönlichen Erfahrungen spiegeln sich in ihren literarischen Werken wider. Der Doppel-Schreier ist eine Synthese ihrer lebenslangen Beobachtungen und Recherchen zu politischen und kulturellen Konflikten.

 

Buchdetails:

Sprache: Deutsch

Ausgabe: Gebundenes Buch

Umfang: 394 Seiten

Verlag: Tredition

Erscheinungsdatum:25.06.2024

Preis: 25 Euro (Hardcover),  9,99 Euro (E-Book)

ISBN Hardcover: 9783384197207

ISBN E-Book: 9783384197214

Ein mitreißender Spannungsgenuss mit tiefen Reflexionsebenen der Zeitgeschichte!

Rezension von Walter Pobaschnig

Literatur outdoors 7/24

„Die Blätter fallen. Und zwei rote davon direkt auf den Sarg ihres Vaters. Sprachlos stehen Zara und ihre Mutter vor dem Dunkel des Grabes. Viele Freunde sind gekommen, es ist bunt wie das Leben des Reporters, der in Indien bei einem Motorradunfall starb. So heißt es, jetzt, im stummen Fall der Blätter. Doch für Zara zerreißt die Stille im Schmerz und sie stürmt davon, wie ihr Vater Reinhard in seinem Leben zwischen Kulturen, Grenzen, Begegnungen und Aufbrüchen…

In Italien begegnen Zara und Ruth dem Fotografen Johannes, einen Kollegen des Vaters und jetzt kommt es zu einer Offenbarung, der Zara nur mit einem Schrei begegnen kann…

Ihr Vater ist nicht tot. Im Grab liegt nur die verbrannte Lederjacke.

Und jetzt bricht Zara auf. Eine Spurensuche beginnt zwischen Tochter und Vater, Erinnerung und Erfahrung, Religion, Kultur und Politik, Liebe und Schmerz, Hoffnung und Ausweglosigkeit…

Lisei Luftvogel, in Essen geborene und in Ferrara lebende Autorin, legt mit Der Doppelschreier ihren zweiten Roman vor und begeistert darinmit sprachlicher Virtuosität in einem kulturellen roadmovie der Sonderklasse.

Die studierte Philosophin wie ebenso der Arabistik/Judaistik packt eine spannungsgeladene persönliche Spurensuche in Brennpunkte der Zeitgeschichte des Nahen Ostens wie Kalten Krieges und lässt so ein Gesellschaftspanorama entstehen, dass an ganz große literarische Werke wie Thomas Mann oder Alfred Döblin erinnert, allerdings im verdichteten Zeitraffer eines krimigleichen Erzählstranges, der im dialogischen wie topografischen Tempo eine genuin selbstbewusste wie faszinierende literarische Form findet.

„Ein mitreißender Spannungsgenuss mit tiefen Reflexionsebenen der Zeitgeschichte!“

Der Doppelschreier, Lisei Luftvogel. Roman. Tredition.

Sprache: Deutsch
Ausgabe: Gebundenes Buch
Umfang: 396 Seiten
Verlag: Tredition
Erscheinungsdatum:25.06.2024
Preis: 25 Euro (Hardcover), 9,99 Euro (E-Book)
ISBN Hardcover: 9783384197207
ISBN E-Book: 9783384197214“

Walter Pobaschnig 7/24

https://literaturoutdoors.com

Eintauchen in eine andere Welt

Rezension von Michael Blum

Wer das Bild von Paul Klee auf dem Buchcover ‚Der Doppel-Schreier‘ nicht kennt, wird zunächst ein wenig verwundert, aber umso neugieriger auf den Inhalt sein. Lisei Luftvogel ist mit ihrem zweiten Buch ein hochkomplexes Romanwerk gelungen, dem man sich kaum entziehen kann. Zunächst scheint das zentrale Thema Zaras Vatersuche zu sein; Zaras Suche ist dabei eingebettet in eine Reise nach Syrien und in den Libanon; offenbar ist ihr Vater, Kriegsreporter, nicht wirklich bei einem Unfall ums Leben gekommen und damals lediglich seine Lederjacke beerdigt worden. Aus vielen Puzzelsteinchen versucht Zara sich einen Reim darauf zu machen, wie die Geschichte nach dem Verschwinden des Vaters wohl weitergegangen ist, wo er sich aufhält und was der Grund für die Kontaktlosigkeit ist. Bei ihrer Suche taucht Zara ein in fremde kulturelle Welten Vorderasiens, in die Geschichte der Befreiungsbewegungen der Region und ihre verzweigten Verbindungen; sie begegnet nicht nur der Lebenswirklichkeit der Menschen der Region sondern auch der Freundschaft und der Liebe. Der Roman ist ein Lehrstück über die Zeit vor dem arabischen Frühling, als Hoffnung auf Veränderung herrschte und vieles möglich schien. Zaras Vatersuche ist aber auch der Versuch einer Neubestimmung der eigenen Identität, nicht nur eine Reise im Außen sondern auch im Innen – die vertrauten Werte ihrer linksalternativen Lebensart und Geisteshaltung stehen auf dem Prüfstand. Ein Roman, der die eigene Perspektive erweitert und einen bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt.

„Ein Buch für das man sich Zeit nehmen sollte„

Rezension von Brinif31

Zaras Vater starb bei einem Motorradunfall. 

Später erfährt sie jedoch, dass sie nicht nur von ihrer Mutter, sondern auch von nahen Bekannten belogen wurde. 

Ihr Vater lebt und auf der Beerdigung wurde lediglich die Motorradjacke von Zaras Vater beerdigt. 

Zum Verbleiben ihres Vaters schweigen alle und sie hat nur den Hinweis, dass sich ihr Vater im Damaskus aufhalten muss. 

Also begibt sie sich alleine auf die Reise und versucht mit verschiedenen Hinweisen Licht ins dunkle zu bringen. 

Zaras Reise hat mich wirklich zutiefst beeindruckt. 

Ich selbst bin eigentlich ein sehr schneller Leser, aber Zaras Reise in den nahen Osten musste ich wirklich in Ruhe lesen, um alle Eindrücke genießen und wie ein Schwamm aufsaugen zu können. 

Auf Zaras Suche nach ihrem Vater begegnet sie so vielen, wundervollen Menschen und muss sich mit den kulturellen Unterschieden auseinandersetzen. 

Ich bin gedanklich mit Zara durch die Straßen gegangen, habe die unerträgliche Hitze gespürt und Gerüche von fernen Ländern und Kulturen in der Nase gehabt. (Ich hoffe, man versteht wie ich das meine). Der Schreibstil ist wirklich bildhaft und vor allem lebhaft dargestellt. 

Ich wusste zu keinem Zeitpunkt wo die Reise hinführt und auch mit dem Ausgang der Geschichte habe ich nicht gerechnet. Das hat mich tatsächlich sehr berührt und ich habe mit Zara mitgefühlt. 

Wer das Buch liest, sollte sich wirklich Zeit nehmen und alles auf sich wirken lassen. Man wird auf jeden Fall belohnt.