Sperrzone Tag 2

Noch nie habe ich mich so gefreut, aufs Rathaus zu müssen, ein Dokument aus dem Stadtarchiv abholen. Ein Brief lag heute morgen im Briefkasten. Ich ziehe los. Gutgelaunt. Die Straßen sind leer. Draußen ist es warm. In der Bar an der Ecke trinke ich einen Kaffee. Die Leute diskutieren miteinander, halten dabei einen Meter Abstand. Sie sind aufgeschlosser als sonst. Ferrara ist eher für seine brummigen Eigenbrötler bekannt, aber heute ist es anders. Jeder wird miteinbezogen. Es komme kaum jemand mehr, sagte der Barmann, und außerdem müsse er höllisch aufpassen, dass die Leute den Abstand einhielten. Vorgestern sei ein alter Mann hereingekommen, der die Kunden angehustet hätte. Er hatte ihn gebeten, das Lokal zu verlassen und nach Hause zu gehen. Draußen sitzt ein älteres Paarchen am Tisch. Sie trinken Kaffee und rauchen. Die Frau hat eine heisere Stimme. Die beiden sitzen dort jeden Tag für Stunden. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, sitzen sie dort. Andere Stammkunden sehe ich nicht. Sie sind wohl zu Hause geblieben. Ich bezahle und gehe weiter. Die große Allee, die zum Schloss führt, ist leer. Eine junge Frau kommt an mir vorbei. Wir lächeln uns an. Am Rathausplatz sitzt nur ein Bettler. Auch innen ist es gähnend leer. Das Archiv liegt am Ende eine langen Ganges. Ich trete in einen großen Saal, in dem drei Frauen stehen, jede drei Meter von der anderen entfernt. Sie sprechen laut über Mundschutzmasken. Die Apoteken verkaufen sie nicht mehr und außerdem wird im Fernsehen gesagt, dass nur die Kranken Masken brauchen. Aber wenn man krank ist, dann sollte man doch gar nicht auf die Straße gehen, sagt eine der Frauen. Ich werde angewiesen, vor einer Tür zu warten. Als ein Mann herraukommt, darf ich eintreten. Wir blicken uns an und gehen in einem großen Bogen aneinader vorbei. Wir sind zu voneinander abstoßenden Kegeln geworden, wie in den Bildern von De Chirico, sagt mir später ein alter Mann in der Schlange beim Gemüsehändler. Im Archiv denke ich an den Prozess von Kafka. Staubige Kladden und Aktenordner, vier Beamte mit Mundschutzmasken. Es ist dunkel.

Am Abend gebe ich Deutschunterricht über Skype. Eine Gruppe von sieben Leuten. Einge sitzen im Wohnzimmer, andere in der Küche oder im Arbeitszimmer. Bei einer rumpelt eine riesige Katze herum. Bei einem anderen sieht man einen alten Wohnzimmerschrank aus den Siebzigern. Eine junge Frau schämt sich zu sprechen, weil ihre Eltern hinten auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Bei einem Mann sieht man viele Bücher im Regal. Ich versuche die Buchdeckel zu lesen, erkenne sie aber nicht richtig. Eine andere Frau hat einen uralten Computer, der durch die Skypeverbindung brummt. Die Leute sind wohlauf. Sie freuen sich über den Kontakt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert