Schon dreißig Tage. Und kein Land in Sicht. Unsere Nachbarin, die schon immer ein Giftzwerg war, wird langsam verrückt. Sie geht nie aus der Wohnung. Heute morgen hat es überall nach Desinfesktionsmittel gerochen. Sicher war sie es. Sie hat sich aufgeregt, dass ich zu viele Blumen pflanze. Für mehrere Stunden habe ich ihr Gift in mir gespürt. Ich verstehe nicht, wie es möglich ist.
Später arbeite ich an meinem neuen Roman. Er lenkt mich wieder ab. Ich lasse mich treiben, in ihren Abenteuern.
Nachts meine ich´ die Angst meiner Nachbarin zu spüren. Urangst? Todesangst?
Morgens ist es immer das Gleiche: ich frühstücke im Bett. Brot mit Marmelade. Die Marmelade von meinem Mann und Kaffee. Mokka und Milch. Ich lese die Zeitung vom Vortag, dann im Nachrichten im Internet. Zwei einhalb Stunden. Danach stehe ich auf und laufe an der Stadtmauer meine Runde. Es ist warm, viel zu warm für die Jahreszeit.
Ich werde eine der Letzten sein, die wieder arbeiten können. Ich muss mich aufraffen. Es reicht nicht, jeden Tag eine halbe Stunde spazieren zu gehen und im Garten zu sitzen. Ich überarbeite mein Exposé und schicke mein Romanmanuskript an eine Agentur. Etwas muss ich tun.
Draußen ist es warm. Ich friere wieder. Warum friere ich bloß? Zu viel in der Wohnung. Ein Frühling, der vorbeigeht. Vogelsingen, hinter dem Fenster. Wieder steht der Militärlaster auf der Straße, um die Leute zu kontrollieren. Ich sitzte auf dem Balkon und tanke Vitamin D, wie eine Eidechse. Genauso kaltblütig wie eine Eidechse fühle ich mich gerade. Mir ist kalt. Die Tage sind langsam und alle gleich. Die Welt, die ich mit meinen eigenen Augen wahrnehme, ist zusammengeschrumpft. Sie geht von der Kreuzung an der Stadtmauer bis zum Zeitungsladen an der anderen Kreuzung, die zum Bahnhof führt. Ach ja der Bahnhof. Den habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Nur, wenn wir einkaufen, wird meine Welt um ein Stück weiter, nur ein kleines bisschen. Wie lange werden wir hier noch ausharren müssen, frage ich mich und ich frage mich auch, warum wir so wenig Genesene haben in Italien. Werden die Leute hier nicht gesund? Oder werden sie nicht gezählt? Wie lange? Wie lange? Wie lange?
Was habe ich heute getan? Nichts. Oder fast nichts. Am Abend habe ich Feldenkrais über Zoom unterrichtet. Ich habe mindestens die Hälfte meiner Kunden verloren. Nicht alle lieben es, über Internet Kontakt zu halten. Besonders die alten Leute tun sich schwer. Ich habe gelesen, dass in Italien 25% aller Haushalte kein Internet besitzt. Die Schule soll nun wieder Pflicht für die Kinder werden, aber nicht alle besitzen einen Computer. Bei vielen Familien gibt es nur einen Computer, an dem die Eltern arbeiten müssen. Oder in einer Familie sind mehr Kinder als Computer. Die Leute, die schon den ganzen Tag am Computer arbeiten, haben abends keine Lust mehr auch noch Feldenkrais vor dem Computer zu machen.
Gewöhnt man sich an alles? Ich weiß nicht. Ich denke immer wieder an Orte, die ich nicht erreichen kann. An meine Reisen. An eine Terrasse auf Kreta, auf der mich immer eine graue Katze besuchen kam. An die Musik am Morgen und die Spiele der Kinder. Oder ich denke an den alten Hafen von Piombino, in dem ich letzten Sommer schwimmen war. Auch denke ich an die Klippen und die Macchia. Jetzt sitze ich im Garten. Unsere Nachbarn schneiden den Rasen mit einer großen Schere, weil sie keinen Rasemmäher haben. Den meisten Teil des Rasens haben die Kinder platt gemacht, beim Fussballspielen. Wir sitzen im Garten und laben uns in der Sonne, bis wir dumm werden. Heute sind wir faul. Nur ein Bocciaspiel machen wir, sonst bewegen wir uns nicht viel. Wer weiß, wann wir das Meer sehen werden. Es ist nur vierzig Kilometer entfernt. Sicher wird es viel sauberer sein. Wie wird sich das Meer wohl anfühlen? Ich habe heute Focaccia gebacken. Ich habe an den Bäcker in Piombino gedacht.
Wie es wohl ist, eine Katze mit Gummihandschuhen zu streicheln, denke ich mir. Wie schlechter Sex vielleicht. Heute beim Gartencenter ist es dazu gekommen. Die Katze scheint trotz meiner Handschuhe zufrieden zu sein. Sie liegt dort auf dem Geranientisch und schnurrt. Aber das Fell nicht an den Fingern zu spüren ist schon komisch. Ich kaufe Salat, und Zucchini zum einpflanzen, ein paar Kräuter und viele Blumen, Erde und Blumentöpfe.
Wir arbeiten den ganzen Tag im Garten. Es ist warm. Schon lange habe ich mich nicht mehr körperlich so verausgabt. Es fühlt sich gut an. Die Nachrichten im Fernsehen werden immer absurder. Jeden Tag betet der Papst. Die Zahlen der Infizierten stiegen nun weniger, aber es sind trotzdem noch viel zu viele Menschen, die krank werden. Niemand glaubt mehr daran, dass es bald zu Ende sein wird.
Am späten Nachmittag gehen wir Orangen kaufen. Orangen kaufen ist schön. Man kommt über die Wiese und an der geschlossenen Bar am Marktplatz unseres Nachbarviertels vorbei. Ein Mann mit einer Tüte Orangen kommt uns auf halber Strecke entgegen. Orangenkaufen wird etwas sein, was in unserer Erinnerung bleibt, sagt mein Mann.
Langsam wie im Gefängnis geht die Zeit voran. Doch auch heute passiert etwas Besonderes. An dem Besonderem halte ich mich fest. Ich unterrichte eine Gruppe von Feldenkraislehrern auf zoom. Am Anfang bin ich aufgeregt wie ein Schulmädchen, doch meine Stimme bleibt ruhig und professionell. Die Lektion erweitert Atmung und Brustkorb. Die Leute bedanken sich bei mir. Ich bin gerührt.
Als wir einkaufen fahren wollen, springt das Auto nicht an. Es gibt keinen Muks von sich. Ich nehme alle Sicherungen raus, aber keine ist kaputt. Vielleicht die Batterie, meint der Mechaniker am Telefon. Wir fahren mit dem Fahrrad zum Coop. Wieder Schlange stehen vor dem Supermarkt. Die Leute reden nicht miteinander. Ich und mein Mann gehen getrennt rein. Wir haben uns die Arbeit aufgeteilt. Ich komme mit fünf Tüten raus. Drei mit Gemüse. Nicht alle Tüten passen hinten in den Korb, zwei hängen am Lenker.
Die Militärkontrolle habe ich hinter mir und auch meine Phobie gegen Polizeigewalt, die ich noch aus Kindertagen mit mir rumtrage. Den Stier bei den Hörnern nehmen heißt es hier. Der Stier ist selbst zu mir gekommen. Jetzt weiß ich, dass sie mir nichts anhaben können. Auch das Transparent mit dem Spruch „Wenn ich einen Fußgänger sehe, schreie ich laut“ ist verschwunden. Ein gutes Zeichen, frage ich mich.
Wir haben online ein Zimmerfahrrad gekauft. Es gibt an, wie viele Kilometer ich zurücklege. Ich kann mir vorstellen, wie weit ich mit einem richtigen Fahrrad kommen würde, wenn ich draußen herumfahren würde. Ich würde zum Fluss Po fahren, dann Richtung Meer, vielleicht nach Venedig oder Ravenna. Aber ich glaube, der Tacho funktioniert nicht richtig. Er gibt viel zu hohe Zahlen an. Draußen streiten wieder die Nachbarskinder. Mit ihrern Ballschüssen nehmen sie langsam aber sicher, den ganzen Gartenzaun auseinander.
Es wird wärmer. Wer weiß, wie lange wir hier noch so ausharren werden müssen.
Heute morgen habe ich mich durch die Internetseite der staatlichen Vorsorgekasse INPS gekämpft und mir die zustehenden 600 Euro beantragt. Acht Mal hat sich das System blockiert. Nach achtmaligem Neuladen der Seite und einer Wartezeit von zehn Minuten zwischen jedem Schritt bin ich durchgekommen, habe meine Steuernummer, meine Telefonummer, meine E-Mail und meine Kontonummer durchgegeben. Währendessen habe ich mit Freunden gechattet, die auch alle vor der Internetseite der Vorsorgekasse saßen. Einige kamen durch, andere blieben irgendwo stecken.
Ich laufe wieder meine Bahnen an der Stadtmauer lang. Immer noch fühle ich mich müde, aber ich kämpfe mich durch. Du darfst nicht aufgeben, sage ich mir. Ich laufe weiter. Auf der Mitte der Strecke steht ein Militärlaster. Zwei Soldaten blockieren die Straße. Ich drehe um. Meine Strecke ist nur noch halb so lang. Ich beobachte das Militär aus der Entfernung. Sie halten Passanten an. Ich laufe zwischen den Häusern vorbei und versuche hinter die Militärabsperrung zu gelangen. Aber an der letzten Straße, die zur Stadtmauer führt, stehen sie, in ihrer mimetischen Militärkleidung. Ich laufe wieder zurück und gehe meinen verkürzten Weg unten an der Mauer lang. Ein Stadtpolizeiauto fährt vorbei. Ich laufe weiter. Als ich am Ende meiner Strecke ankomme, erreicht mich der Militärlaster und dahinter ein anderes Stadtpolizeiauto. Ein Soldat brüllt aus dem Fenster:
„Wo gehen Sie hin, Signora?“
„Ich mache körperliche Aktivität – attività fisica.“
„Wo wohnen Sie?“
„Hier in der Nähe, Via…“
„Ok,“ sagt der Soldat und der Laster fährt wieder los. Ich atme auf. Sie haben mich gehen lassen. Befreit laufe ich die ganze Strecke zurück, bis ich zwei Damen erreiche, die mir mit ihren Hunden den Weg versperren. Ich laufe auf die Straße .
Am Nachmittag erfahre ich im Fernsehen, dass die Internetseite von der Vorsorgekasse zusammengebrochen ist. Die Daten der Antragssteller sollen sich gemicht haben. Vielleicht waren auch Hacker am Werk. Die Seite ist geschlossen worden.
Ich gehe in den Garten und schaue mir die Blumen an, die ich gepflanzt habe. Sie wachsen. Es ist Frühling.
Heute war mein schwärzester Tag. Vielleicht habe ich auch die Spitze erreicht, genau wie die Kurve der Coronavirusinfizierten Italiens. Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, unaufhörliches Warten einer Besserung, Trauer, Lustlosigkeit. Wenn man ganz unten ankommt, dann sieht man am Ende des Tunnels ein Licht, hatte damals bei einer Vorlesung meine Philosophieprofessorin gesagt. Sein und Nichts. Nichts und Sein. Nichts. Nichts. Nichts.