Sperrzone Tag 20

Heute bin ich ausgeschlafen. Draußen bei meiner Bahn an der Stadtmauer ist niemand unterwegs. Mein Gang ist schnell. Ich entspanne meinen Körper aber nicht meinen Geist. Ich spüre die Spannung in mir. Wie es sich wohl anfühlt, wenn man wieder draußen rumlaufen darf, ohne Angst zu haben sich bei den Sicherheitskräften verantworten zu müssen, in der Hoffnung die richtigen Wörter gewählt zu haben. Ich laufe schnell, hin und und zurück, hin und zurück. Mein Gesicht ist angespannt.

Mein Mann ist früh von der Arbeit zurück. Ins Büro darf er nicht mehr. Vor dem Mittagessen spielen wir wieder Boccia im Garten. Eine Möglichkeit sich zu bewegen ohne vor die Tür zu gehen. Er gewinnt und freut sich wie ein kleiner Junge.

Am Abend schauen wir „Report“ im italienischen Fernsehen. Die Situation der Krankenhäuser ist katastrophal. Im Süden ist es noch viel schlimmer. Der Virus darf dort nicht hingelangen, schon jetzt herrscht dort Chaos. Krankenwagen ohne Schutz mit Kranken, die stundenlang vor den Krankenhäusern warten. Pflegepersonal ohne Schutzkleidung. Kranke, die sich erst im Krankenhaus mit dem Virus anstecken. Die viel zu spät behandelten Menschen, die erst bei Atemnot ins Krankenhaus geleifert werden, wo es an Beatmungsgeräten fehlt…

Seit Jahren wird in Italien bei der Gesundheit und Bildung gekürzt. Italien konnte sich nicht auf die Coronakrise vorbereiten. Nicht in diesen Zuständen, ohne Geld, ohne Personal. Ich denke an die europäische Sparpolitik, die die ärmeren Länder in die Knie gezwungen hat, aber auch an die Missstände und Korruption im Land.

Sperrzone Tag 19

Heute Nacht konnte ich nicht schlafen. Vielleicht zu wenig Bewegung. Die Müdigkeit geht nicht aus den Knochen. Draußen, als ich mit meinem Mann die Bahnen auf und ab gehe, hält die Stadtpolizei neben uns. Sie sagen nichts. Ich gehe einfach weiter. Sie fahren wieder los. Kurze Zeit später kommen sie wieder zurück und halten erneut neben uns. Wieder beobachten sie uns nur.

„Lass uns nach Hause gehen, es ist besser so“, sage ich zu meinem Mann. Er erklärt mir, warum sie kein Recht haben uns zu bestrafen. Davon habe ich aber nichts. Ich glaube, die Interpretationen könnten willkürlich sein. Aber sie haben uns ja gar nichts getan, denke ich dann. Sie haben uns nur beobachtet. Ich mag aber nicht beoachtet werden. Es gibt mir das Gefühl bei Georges Orwells 1984 zu sein.

Wenn die Krise vorbei ist, werden wir alle unsere Freunde besuchen, auch die die wir schon lange nicht mehr gesehen haben. Ich möchte das Meer sehen und die Berge. Jetzt sehe meine Freunde in ihren Häusern sitzen, jeder für sich.

Immer wieder tauchen Statements der Fürsprecher der absoluten Quarantäne in den sozialen Medien auf. Sie sind für eine diktatorische Kontrolle wie in China, plädieren für Durchhalten und sind davon überzeugt, dass Fahradfahrer und Jogger andere Menschen infizieren. Sie seien es Schuld, wenn die Quarantäne so lange dauere. Es gibt Facebookgruppen die einzig dafür geschaffen sind, um Fahradfahrer und Läufer anzuzeigen.

An der Straße, an der ich jeden Tag meine Bahnen auf und abgehe, hängt jetzt ein Trasparent. „Wenn ich einen Spaziergänger sehe, schreie ich laut.“ Zum Glück ist gerade niemand auf dem Balkon.

Sperrzone Tag 18

Heute ist Samstag. Obwohl alle Tage gleich sind, finde ich ihn einen besseren Tag. Ich gehe mit meinem Mann raus, zum Orangenkaufen. Auch letzten Samstag haben wir Orangen gekauft. Ich habe Kopfschmerzen. Ich laufe in einiger Entfehrnung von meinem Mann, denn eigentlich darf man nur allein raus. Ich glaube, meinen Mann macht das nervös. Mein Gesicht zieht sich zusammen. An jeder Ecke wittere ich Polizeikontrolle. Ein Kind sitzt mit seinen Eltern am Bordstein und spielt Bagger. Ein seltener Anblick. Wir kommen unter der Unterführung durch. Hier ist die Grenze, dahinter darf man nur mit trifftigem Grund. Orangenkaufen. Ich küsse meinen Mann. Er lächelt. Meine Gesicht entspannt sich ein bisschen. Neben uns liegt eine Wiese, über die man nicht mehr laufen darf. Dann die Bar, neben einem kleinen Platz, wo Mittwochs vor der Corona Krise immer Markt war, und wo ich immer einen Kaffee getrunken hatte, bevor ich dort eine Runde drehte. Ach das waren Zeiten. Wie es sein wird, wenn es wieder Märkte gibt, und offene Bars. Wir treten in das kleine Geschäft und kaufen Orangen. Eine Frau starrt meinen Mann böse an.

Sperrzone Tag 17

Ich wache wieder viel zu früh auf. Doch tue ich nichts. Lese im Internet über Corona. Die Zeit vergeht. Mein Vater ruft an. Mein Bruder ruft an. Es ist zwölf Uhr. Ich stehe auf, dusche und gehe raus, mit meiner Autocertificazione. Mittlerweile ist das vierte oder fünfte Modell rausgekommen. Wichtig ist es, das neueste ausgedruckt zu haben. Wie ich es genau auszufüllen habe, bleibt mir immer noch ein Rätsel. Interpretationsmöglichkeiten.

Draußen ist es milder geworden. Ich laufe meine Bahn auf und ab und filme meine leere Bahn beim Laufen. Nur meine Schritte hört man. Das frische Grasgrün mischt sich mit dem grauen Asphalt. Ich komme an den Aschentonnen vorbei. Am Ende des Weges taucht eine Frau mit Mundschutzmaske und Sonnenbrille auf. Sie bringt ihren Hund raus. Der Hund will nicht laufen. Er zieht an der Leine. Dann biegt ein Militärauto in die Straße ab. Ich halte meine Luft an.

Ich bin müde. Mein Mann kommt nach Hause. Er ist aufgeregt. Heute Abend gibt er ein Live-konzert über einen Musiksender. Ich soll die Videoaufnahme machen. Die ganze Wohnung ist eine Bühne, von der Waschmaschine zum Balkon. Ich lege mich schlafen, um für die Aufnahmen fit zu sein.

Sperrzone Tag 16

Blei liegt in meinen Knochen. Draußen Sibirien. Ich friere. Wieder messe ich mir die Temperatur: 36.8. Ich fühle mich eingeschlossen in meinem Körper. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch, ein Luft- und Wandervogel. Das Eigesperrtsein in unserem goldenen Käfig mit frischen Nudeln, Obst- und Gemüse, Fisch und Fleisch, Wein und Bier, griechischem Joghurt und indischen Würzpasten macht mir zu schaffen. Ich schaffe es weder zu lesen und mich zu entspannen noch aufzuräumen. Ich bin ein eingesperrter Tiger. Ich spüre es in meiner Brust. Ich will raus.

Nach dem Kaffee und den Keksen drehe ich meine Runde. Zweihundert Meter in die eine Richtung, dann zurück, zweihundert Meter, wieder kehrt, zweihundert Meter, und nocheinmal. Der kalte Wind schneidet in mein Gesicht. Nach einer halben Stunde kehre ich heim. In der Wohnung ist es stickig. Ich mache Durchzug.

Meine Nachbarin oben hat Mann und Kinder rausgeschickt. Sie desinfiziert die Wohnung zusammen mit ihrer Mutter, nehme ich an. Sie ist auch sonst eine Sauber- und Ordnungsfanatikerin. Ich höre ihr Geschrei und Möbelverrücken.

Unsere Wohnung verändert sich immer mehr. Mein Büro ist im Bett und im Wohnzimmer. Der Sessel aus meinem Zimmer steht auf dem Balkon. Das Aufnahmestudio meines Mannes ist in der ganzen Wohnung. Das Klopapier ist nun in der Küche, da mein Mann morgen in der Abstellkammer auftritt, vor der ein Vorhang hängt. Auch dort hängt nun ein Strobolicht.

Wir gehen im Garten Boccia spielen, obwohl es regnet.

Sperrzone Tag 15

Es ist eisig kalt. Mir ist heute morgen ein wenig schwindelig. Ich raffe mich auf. Bewegung brauche ich, um meinen Kreislauf wieder in den Gang zu bringen. Ich ziehe mich dick an und bringe den Abfall raus. Danach drehe ich meine Bahnen. Sibirischer Wind knallt mir ins Gesicht. Drei andere Menschen mit Hunden sind unterwegs und ein Abfalldienst. Nach fünfzehn Minuten wärmt mein Körper. Ich laufe noch weiter fünf Minuten, dann gehe ich nach Hause zurück.

Bald ist Ostern. Ich schaue noch einmal auf den Kalender, um mich zu vergewissern. All die riesigen Ostereier aus Schokolade werden dieses Jahr in den Supermärkten vergammeln. Wem sollte man sie schenken. Bei meinem Nachbarn standen die anderen Jahre mindestens zehn Eier auf dem Wohnzimmerschrank. Und die vielen Colombakuchen, die überall während der Osterzeit verspeist werden? Und die Verlosungen von Esskörben in den Bars? Auch die werden dieses Jahr ausfallen.

Ich rufe bei der Post an, da im Fernsehen gesagt wurde, die Postämter seien auf. Die Post in meinem Viertel, wo mein Einschreiben liegt, ist immer noch geschlossen. Die Frau im Call-Center gibt mir eine andere Adresse. Ich fahre dorthin, mit dem Auto. Seit drei Wochen fahre ich kein Auto. An der Post gibt es keine Schlange, nur Menschen die wie abstoßende Atome zusammengewürfelt auf dem Parkplatz stehen. Mindestabstand zehn Meter. Wenn sich eine Person bewegt, bewegen sich die anderen mit, um den Abstand zu bewahren. Ich frage, wer der Letzte ist. Es dauert eine Zeit, bis eine vermummte Afrikanerin antwortet: „La signora li“, und zeigt auf eine Frau neben mir. Es ist kalt. Ich bewege mich auf der Stelle, um nicht zu frieren. Immer wieder kommen Leute und fragen, wer der Letzte ist. Eine Frau im Taillieur und mit Stöckelschuhen erscheint. In dieser Zeit eine irreale Erscheinung.

Sperrzone Tag 14

Heute ist mein Mann zu Hause. Er hat unsere Wohnung in ein Aufnahmestudio und in ein Theater verwandelt. Überall hängen und liegen Schilder, bunte Lichter, Noten, Musikinstrumente. Auch in meinem Bett sind nun grüne Strobolichter angebracht, auf der Kloschüssel stehen Zitate von den Ramones, ein kleines Schlagzeug steht auf der Komode. Als sollten hier Geister auftreten, an den Wänden, an der Decke oder aus der Kanalisation. Mein Mann ist verpfichtet worden, Ferien zu nehmen. Ich hoffe, er wird sich durchsetzten, damit ihm nicht die ganzen Ferien des Jahres abgenommen werden. Denn nach der Quarantäne möchte ich hier raus. Und das nicht allein.

„Wir müssen hier raus, das ist die Hölle
Wir leben im Zuchthaus
Wir sind geboren, um frei zu sein“

Ton Steine Scherben 1972

Das Militär soll eingesetzt werden, um die Leute zu kontrollieren. Menschen, die schon seit Wochen zu Hause sitzen, ohne an die frische Luft zu kommen, denunzieren andere, die sich die Beine vertreten. Es ist immer noch erlaubt, vor der Haustür spazieren zu gehen, aber trotzdem werden die, die draußen laufen, als Schuldige gebranntmarkt, auch wenn sie einen riesigen Abstand zueinander halten. Zum Glück lese ich nun immer mehr andere Meinungen. Die Arbeiter der Fabriken, die nicht notwendige Waren produzieren, wollen streiken. Auch sie haben ein Recht auf Unversehrtheit. Warum wird die Waffenproduktion eigentlich nicht eingestellt? Waffen sind nicht nötig, um Menschen gesund zu halten. Oder wollen sie den Virus mit Panzern oder Granaten erschießen? Dronen sollen eingesetzt werden, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Es ist mir unwohl heute. „Wir leben in einem Zuchthaus“, kommt mir wieder in den Sinn. Ich lese von Menschen, die sich das Leben nehmen, weil sie das Eingeschlossensein nicht mehr aushalten. Wissenschaftler warnen, dass die Isolation noch viel größere Schäden anrichten kann als das Virus selbst. Die Demokratie wird in Gefahr sein. Immer öfters lese ich in Posts, dass die Spaziergänger nicht die Gefahr sind. Dass der Virus nicht in der Luft hängt, sondern durch menschlichen Kontakt übertragen wird. Ich fühle mich eingesperrt. Ich will hier raus. Irgendwohin, weit weg, ins Gebirge, in den Wald, auf eine Insel. Zurück in die Vergangenheit, vor dem Coronavirus.

Zum Glück muss ich heute zur Bank. Auf dem Weg dorthin sehe ich weder Militär noch Polizei, nur ein Auto von den „Vigili Urbani“. Der Burgplatz ist Menschenleer. vor einem Supermarkt stehen die Leute Schlange, im Abstand von zehn Metern. Jeden Tag wird der selbstauferlegte Abstand größer. An der Bank wird mir ein Dokument rausgereicht, dass ich vorher telefonisch bestellt habe. Die Angestellte mit Mundschutzmaske kann nicht mehr lächeln. In ihrem Gesicht steht die Angst geschrieben.

Wieder zu Hause spiele ich mit meinem Mann Boccia im Garten. Dieser geschützte Raum spendet Geborgenheit. Ein kühler Wind weht, aber sie Sonne strahlt warm auf die Wiese. Ich beobachte die Schatten, die die Sonne durch die Bäume wirft.

(You Tube Video entfernt).

Sperrzone Tag 13

Jetzt sind es beinahe zwei Wochen, dass Italien zur roten Zone erklärt wurde. Heute morgen ist es kühl, aber der Himmel strahlt blau. Ich gehe um den Häuserblock spazieren. Fast nur noch wenige Leute mit Hunden sind unterwegs. Die Stille wird immer unwirklicher. Ich laufe mitten auf der Straße, damit ich niemanden ausweichen muss. Vier fünf Mal laufe ich um den Block. Ich sauge die Blätter der Bäume und den Wind in mich ein, bevor ich mich wieder in die Wohnung verkrieche. Immer wieder kommen mir Orte in den Sinn. Vor der Corona Krise waren sie banal gewesen, jetzt sind sie unerreichbar geworden. Orte, die zwei drei Wochen zurückliegen, als seien sie Ferienerinnerungen. Der Fahrradweg am Kanal, eine Straße in der Altstadt, ein Platz, ein Feld. Oder andere Orte, die noch weiter entfernt sind. An die sich meine Gedanken nur selten trauen. Hügel, Meer, Wald. Ach ja der Wald. Der Wald in den Appeninen. Unsere Wanderungen durch die Wildniss. Die hohen Kronen, der Geruch der Erde. Freiheit.

(You Tube Video entfernt)

Sperrzone Tag 12

Gestern sind in Italien an die achthundert Menschen an dem Virus gestorben. Nun darf man sich nur noch vor der Haustür die Beine vertreten, wenn es nötig ist. Ich vertrete mir die Beine und laufe die Straße auf und ab, neben den Bäumen lang. Zum Glück gibt es hier Bäume. Wieder höre ich die Vögel zwitschern. Zum Glück gibt es hier Vögel. Das Gras unter den Bäumen ist schon kniehoch. Ein alter Mann kommt mir entgegen. Ich weiche ihm aus und laufe auf der Mitte der Straße weiter. Es fahren sowieso keine Autos mehr. Als ich am Ende meiner Bahn ankomme, laufe ich zurück und begegne wieder dem Alten. Ich weiche ihm erneut aus. Ein Hund bellt am Fenster. Er steht mit den Beinen in einem Blumenkasten. Wie im Schwimmbad mache ich meine Bahnen. Eine halbe Stunde lang. Dann kehre ich nach Hause zurück. Ich spiele Devil Stick, ein akrobatisches Spiel, dass ich als Jugendliche gespielt habe. Ich habe es in der Abstellkammer im Garten gefunden.

Das Sein zum Tode hat Heidegger als einziges autentisches Dasein definiert. Erst, wenn man sich des Todes bewusst wird, existiert man als Ganzes. Die Angst vor dem Tode bringt den Menschen in Kontakt zu sich selbst. Vor dem Tod steht man allein. Nur, wenn man den Tod mit in Anbetracht zieht, stellt man sich all seiner Möglichkeiten.

Ich werde immer mehr zum Kind. Wahrnehmung der Planzen, der Wiese, der Boccia Kugeln im Garten. Nichts. Dem Nichts ins Auge sehen. Wieder kommen schlimme Nachrichten im Fernsehen. Ich versuche mich fallenzulassen. Vielleicht die einzige Möglichkeit. Unsere Welt ist klein geworden und zugleich riesig. Überall herrscht die Pandemie, aber das, was wir wahrnehmen ist unsere nächste Umgebung, die immer winziger wird.

Sperrzone Tag 11

Immer mehr erinnern mich meine Tage an meine Kindheit. Ich kann mich nur noch wenige Meter von der Haustür entfernen oder im Garten spielen. Ich schaue mir die Gärten meiner Nachbarn an. Ihre Pflanzen. Im Garten arbeite ich selbst am Blumenbeet. Ich hätte viel Zeit, um an meinem Roman zu arbeiten, aber mein Kopf ist leer. Die alltäglichen Grausamkeiten erdrücken. Heute Nachmittag sind Tote aus Bergamo in Ferrara angekommen. In Militärlastern. Sie werden ins Krematorium gebracht. Nicht alle Städte in Italien haben Krematorien. Draußen im Garten schreien sich die Nachbarskinder an. Sie schreien mehr, als dass sie spielen.