Sperrzone Tag 10

Ich frühstücke wie immer bei Morgengrauen und bereite mich für den Call vor der Webcam um acht vor. Papiere neben mir im Bett. Ich habe Schüttelfrost und messe mir wieder Fieber. 36.2. Vielleicht ist es bei mir umgekehrt, ich verliere an Temperatur. Ich habe Angst, krank zu sein. Um acht gehe ich in die Warteschleife. Diesemal kommt Musik. Für eine Stunde surfe ich im Internet, bis eine Frau auf dem Bildschirm erscheint. Ich liege im Bett, ungekämmt, aber das kann die Frau nicht wisssen. Ich gebe alle meine Daten durch und bestätige das, was sie vorliest. Bald ist ihr Spid aktiv, sagt am Ende die Frau. Ich gehe wieder auf eine Internet-Seite, um den Spid zu aktivieren. Doch der Computer legt lahm. Der Bildschirm wird schwarz. Mein Mann ruft an. „In allen Radio-Sendern ist die gleiche Musik.“ Seine Stimme klingt alarmiert. „Kannst du im Internet kontrollieren, was passiert ist?“, fragt er. Er besitzt kein Smartphone. „Mein Computer ist abgestürzt und ich werde mit der Internet-Seite der Vorsorge-Kasse verückt. Ich schau nachher nach, Ok?“

Ich frage mich, ob es den Aufwand wert ist, da ich ja noch nicht einmal sicher bin, das Geld überhaupt zu bekommen. Ich schaffe es, meinen Computer wieder in Gang zu setzten und finde Webseiten, auf denen ein Service angeboten wird, der meine getane Arbeit für fünfzig Euro anbietet. Dann lese ich woanders die Meldung, dieser Service sei nicht regulär. Man könne nur direkt über die Seite der Vorsorge-Kasse das Geld beantragen. Es sei ein Gerücht, dass nur die ersten das Geld bekommen. Um halb eins habe ich einen Spid und ich habe die Pin-Nummer an der Vorsorge-Kasse beantragt. Es wird sicher ein paar Tage dauern, bis sie für mich bereit steht, hoffentlich nicht zu lange.

Zum Mittag gehe ich mit meinem Mann einkaufen, eine meterlange Schlange. Wieder eine halbe Stunde warten. Die Leute stehen im Abstand zueinander. Hinter mir hustet und niest ein Mann. Ich schimpfe ihn an, er soll nicht so nah mit seinem Einkaufwagen an mich ranfahren. Er grinst wie ein Kind, auch wenn er sicher fünfzehn Jahre älter als ich ist. In den Gängen ist es manchmal schwer an den Leuten vorbeizukommen. Vor den Kirchererbsen stehen zwei alte Männer und schwätzen. Ich kaufe keine Kichererbsen. Gemüse, viel Gemüse, Erde und Blumen, Reis, Kekse, Käse, eine Maus für meinen Computer. Mein Mann kauft Wein und Joghurt.

Zuhause geht es mir besser. Ich fühle mich nicht mehr krank. Wir sitzten auf dem Balkon und schwätzen mit den Nachbarn. Die Frau im Haus nebenan hat zwei Katzen, eine schlanke rote und eine dicke gescheckte. Die dicke bleibt im Haus und blickt nur mit dem Kopf raus. Unten im Garten putzen eine Nachbarin und ihre Mutter den Staub von den Blättern der Pflanzen. „Man muss ja etwas tun,“sagt die Mutter. „Es ist eine Art Beschäftigungstherapie.“

Ich hole alte Bocciakugeln heraus und ich spiele mit meinem Mann im Garten. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich mit meinem Vater und mit meinem Bruder Boccia gespielt habe, in den Siebzgern und den frühen Achtzigern. Wir werden immer mehr zu Kindern.

Sperrzone Tag 9

Ich habe Kopfschmerzen. Ab heute darf man nur noch um den Häuserblock laufen. Wie immer seit der Corona-Krise bin ich schon viel früher wach. Ich sitze im Bett, frühstücke und lese die schlimmen Nachrichten aus aller Welt, die Zeitung vom gestern. In Syrien scheinen erste Coronafälle aufgetaucht zu sein. Sie werden versteckt. Was wird aus Afrika? Und Lateinamerika? Mit den Migranten, die immer noch an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland festsitzen, oder im Lager Moria in Lesbos?

Ich kontrolliere auf google Maps, wie weit ich laufen darf. Zum Glück ist die Stadtmauer in der Nähe. Auf die Stadtmauer kommt man zwar nicht mehr, aber von unten sieht man die Bäume.

Wie ein eingesperrter Tiger laufe ich mehrere Male neben der Stadtmauer hin und her, nach meinen getesten Entfernungen auf google Maps. Leute stehen auf dem Balkon. Ich habe das Gefühl ihre entrüsteten Blicke im Rücken zu spüren.

Ich fühle mich nicht gut. Mir ist kalt. Ich habe Schüttelfrost. Wieder Hypochondrie? Ich messe Fieber. 36.9, trotzdem nehme ich Paracetamol. Aus psychologischen Gründen. Italien hat aus der staatlichen Kasse für soziale Vorsorge den Selbständigen 600 Euro zugeteilt. Es soll bald einen Klick-Tag geben, an dem das Geld beantragt werden kann, aber es wird gemunkelt, das Geld würde nicht für alle reichen. Ich gehe auf die Internet-Seite der Vorsorge-Kasse und erfahre, dass ich nur Geld beantragen kann, wenn ich eine Pin-Nummer für soziale Leistungen beantragt habe. Ich habe in den zwanzig Jahren, in denen ich in Italien arbeite, noch nie Krankengeld beantragt und ich werde nicht die Einzige sein, der es so geht. Um überhaupt online mit dem Amt in Kontakt zu treten, brauche ich einen Spid, eine digitale Erkennung. Um einen Spid zu bekommen, muss ich 20 Euro bezahlen. Ich verbringe den ganzen Nachmittag zwischen Bergen von Papieren, die ich zum Glück alle in einer Kiste aufbewahrt habe, zwischen Pin-Nummern, Handy und Computer Erkennungen, weiteren Nummern, Otp, Pim Pum Pam…. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Eine Erkennung über Webcam läuft schief, da zu viele Menschen gleichzeitig in der Wartschlange sitzen. Nach weiteren anderthalb Stunden Warteschlange vor der Webcam gebe ich auf. Ich will es am nächsten Tag versuchen. Es ist fast 20 Uhr.

Ich messe Fieber. 37.1, oh je. Wieder hyperchondrische Ängste. Nach dem Abendessen bin ich so müde, dass ich auf dem Sofa einschlafe.

Sperrzone Tag 8

Mein Handy ist runtergefallen und ich habe einen Reparturdienst gefunden, wo ich vorbeifahren kann, mit dem Fahrrad, um 11. Ich soll an den Rolladen klopfen. Ich will auch an der Hauptpost vorbeifahren, um zu erfahren, wie ich an das gerichtliche Einschreiben kommen kann, da die Post in meinen Viertel geschlossen hat.

Auf der Haupteinkaufstraße sind so viele Leute unterwegs, dass es schwierig ist, Abstand zu halten, ein wahrer Slalom. Ein alter Mann sitzt auf einer Treppe und liest Zeitung. Eine alte Frau gestützt von ihrer Pflegerin schlürft zum Zeitungshändler. Auf den Steinlöwen am Dom sitzten afrikanische Fahradkuriere in der Pause und essen Brote. Ich gebe mein Handy beim Reparierdienst ab und fahre wieder zurück. Wieder im Slalom durch die Einkaufsstraße. Am Hauptplatz vor dem Dom fahren Reinigungsfarzeuge und versprühen eine übelriechende Substanz. Ich umfahre den Platz.

An der Post steht eine Schlange bis auf die Straße. Ich reihe mich ein. Ich habe eine gute Stunde Zeit.Die Leute schauen sich misstrauisch an, sie sprechen nicht miteinander. Normalerweise wären in so einer Situation eine große Disskussion ausgebrochen. Eine Postangestellte kommt heraus. Ich schreie ihr zu: „un informazione, prego.“ Ich erfahre von ihr, dass mein Eischreiben in der geschlossenen Post liegt, und dass ich es erst bekomme, wenn die Corona-Krise vorbei ist. „Warum werden dann überhaupt noch Einschreiben verschickt?“, frage ich die Postangestellte, „wenn man gar nicht an sie rankommt?“ Die Frau zuckt mit den Schultern. Ich fahre nach Hause.

Als ich anderthalb Stunden später wieder beim Reparaturdienst bin, merke ich, dass ich Geld und Papiere zu Hause gelassen habe. Der Mann gibt mir trotzdem das Handy. Ich soll ihm das Geld am Nachmittag bringen. Es ist mir nicht geheuer, ohne Papiere durch die Stadt zu fahren. Nur meine selbstgeschriebene Genehmigung habe ich in der Tasche. Ich fahre schneller.

In den Nachrichten erfahre ich, dass ab morgen niemand mehr Laufen oder Fahrradfahren darf, außer vor der Haustür. Ich will das letzte Mal die Natur draußen sehen und sie mir genau einprägen. Mein Mann und ich fahren auf die Felder hinaus.

Wie Kinder streunen wir über die Schütthügel, über die Gras gewachsen war. Wir entdecken einen kleinen Trampelpfad und laufen den Hügel hinauf, zwischen wilden Pflanzen hindurch. Fast wie in der Toskana, denke ich. Von oben blicken wir über die Ebene, die Felder und die Chemiefabrik in der Ferne. Kein Mensch ist zu sehen. Wir genießen die Stille. Die Vögel singen und unten an dem kleinen Kanal quaken Frösche. Ein warmer Frühlingstag. Wir setzen uns ins Gras. Hier sieht uns keiner. Niemand kann uns hier bestrafen.

Sperrzone Tag 7, abends

Immer mehr Menschen sterben in Bergamo. Die Ärzte und Pfleger sind infiziert, Altenheime, ganze Krankenhausstationen. Mir kommen beinahe die Tränen, als ich meinem Mann vom neusten Stand aus dieser gemarteten Stadt berichte. Jeden Tag berichten die Krankenhäuser aus ganz Italien über die Situation in den verschiedenen Gebieten. Ärzte aus China, Kuba und Venezuela sind eingeflogen, um zu helfen.

Die Leute aus meinem Deutschkurs sind zusammengerückt. Ich spüre eine größere Nähe unter ihnen, obwohl wir nur vor dem Bildschirm sitzen. „Wenn alles vorbei ist, gehen wir zusammen Pizza essen“, sagt jemand. „Ja, lasst uns Pizza essen gehen“, „Oh, ja, Pizza, wer weiß, wie lange das ganze noch dauert.“ „Sicher bis zum Sommer.“ „Auf alle Fälle werden wir zusammen Pizza essen.“ „Auch, im August,“ antworten die anderen. Pizza essen, zusammen… Eine Idee, ein Bild, eine Vorstellung, die sich immer weiter von mir entfernt. Auch die Filme, die ich mir abends zusammen mit meinem Mann ansehe, kommen mir irreal vor. Irreal, das Zusammensein, die vollen Straßen, wie schnell man sich umgewöhnt, denke ich mir.

Sperrzone Tag 2

Noch nie habe ich mich so gefreut, aufs Rathaus zu müssen, ein Dokument aus dem Stadtarchiv abholen. Ein Brief lag heute morgen im Briefkasten. Ich ziehe los. Gutgelaunt. Die Straßen sind leer. Draußen ist es warm. In der Bar an der Ecke trinke ich einen Kaffee. Die Leute diskutieren miteinander, halten dabei einen Meter Abstand. Sie sind aufgeschlosser als sonst. Ferrara ist eher für seine brummigen Eigenbrötler bekannt, aber heute ist es anders. Jeder wird miteinbezogen. Es komme kaum jemand mehr, sagte der Barmann, und außerdem müsse er höllisch aufpassen, dass die Leute den Abstand einhielten. Vorgestern sei ein alter Mann hereingekommen, der die Kunden angehustet hätte. Er hatte ihn gebeten, das Lokal zu verlassen und nach Hause zu gehen. Draußen sitzt ein älteres Paarchen am Tisch. Sie trinken Kaffee und rauchen. Die Frau hat eine heisere Stimme. Die beiden sitzen dort jeden Tag für Stunden. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, sitzen sie dort. Andere Stammkunden sehe ich nicht. Sie sind wohl zu Hause geblieben. Ich bezahle und gehe weiter. Die große Allee, die zum Schloss führt, ist leer. Eine junge Frau kommt an mir vorbei. Wir lächeln uns an. Am Rathausplatz sitzt nur ein Bettler. Auch innen ist es gähnend leer. Das Archiv liegt am Ende eine langen Ganges. Ich trete in einen großen Saal, in dem drei Frauen stehen, jede drei Meter von der anderen entfernt. Sie sprechen laut über Mundschutzmasken. Die Apoteken verkaufen sie nicht mehr und außerdem wird im Fernsehen gesagt, dass nur die Kranken Masken brauchen. Aber wenn man krank ist, dann sollte man doch gar nicht auf die Straße gehen, sagt eine der Frauen. Ich werde angewiesen, vor einer Tür zu warten. Als ein Mann herraukommt, darf ich eintreten. Wir blicken uns an und gehen in einem großen Bogen aneinader vorbei. Wir sind zu voneinander abstoßenden Kegeln geworden, wie in den Bildern von De Chirico, sagt mir später ein alter Mann in der Schlange beim Gemüsehändler. Im Archiv denke ich an den Prozess von Kafka. Staubige Kladden und Aktenordner, vier Beamte mit Mundschutzmasken. Es ist dunkel.

Am Abend gebe ich Deutschunterricht über Skype. Eine Gruppe von sieben Leuten. Einge sitzen im Wohnzimmer, andere in der Küche oder im Arbeitszimmer. Bei einer rumpelt eine riesige Katze herum. Bei einem anderen sieht man einen alten Wohnzimmerschrank aus den Siebzigern. Eine junge Frau schämt sich zu sprechen, weil ihre Eltern hinten auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Bei einem Mann sieht man viele Bücher im Regal. Ich versuche die Buchdeckel zu lesen, erkenne sie aber nicht richtig. Eine andere Frau hat einen uralten Computer, der durch die Skypeverbindung brummt. Die Leute sind wohlauf. Sie freuen sich über den Kontakt.

Sperrzone Tag 3

Heute morgen wache ich früh auf. Ich merke es gleich. Es ist nicht mehr so wie gestern. Ich stehe auf, gehe in die Küche und öffne das Fenster. Elstern hüpfen durch den Garten im Frühnebel. Frische Luft dringt ins Zimmer. Die Luft der Freiheit. Ich atmete sie tief ein. Die Elstern krächzen und springen im Garten herum. Ich koche Mokka und Bergtee. Mein Mann wundert sich, mich schon so früh auf den Beinen zu sehen. Er hat Glück. Er geht arbeiten, auf dem Damm am Fluss Po. Bei seinen Kontrollfahrten als Dammwart kann er sich frei bewegen. Ich spüre, wie meine Gemütsverfassung gegenüber dem Vortag den Bach runter gegangen ist. Gestern abend hat der Ministerpräsident Conte im Fernsehen erklärt, dass nun niemand mehr das Haus verlassen dürfe, außer für die wesentlichen Bedürfnisse, zum Arbeiten und zum Einkaufen. Die Bars und Restaurants sind geschlossen worden. Zu viele Leute hatten noch in den Bars herumgehockt, junge und alte. Vor allem für die alten Menschen sind die Bars Orte der Begegnung, an denen sie Neuigkeiten austauschen, Zeitung lesen, Karten spielen oder einfach nur rumsitzen und den Menschen zuschauen, die auf einen Kaffee vorbeikommen. Die Bars sind viele kleine Herzen der italienischen Städte. Ich überlegte mir, wie ich meinen Körper fit halten kann, ohne auf die Straße zu gehen. Heute wird es warm. Der Pflaumenbaum blüht. Natürlich kann ich noch in den Garten gehen, aber dort wie ein Gefangener tausend Schritte im Kreis tun? So weit bin ich noch nicht. Ich lese in Facebook, dass Spazierengehen verboten ist und dass man dafür auch bestraft werden kann. Man darf nur mit einer selbstgeschriebenen Berechtigung vor die Tür und nur im Notfall, zum Einkaufen, zum Arzt oder zur Apotheke. Mein Mann verabschiedet sich von mir. Ich beneide ihn. Im Garten blühen die Narzissen und die Veilchen. Ich fühle mich niedergeschlagen. Es ist ein Frühling, der wohl vorbeigehen wird, ohne ihn genießen zu können. Das Nichts dringt immer weiter vor, von Tag zu Tag einen kleinen Schritt weiter.

Ich lese eine Erklärung zu den Anordnungen der Regierung und erfahre, dass man doch spazieren gehen darf. Es fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich fühle mich seit heute morgen, wie ein eingesperrter Tiger. Jeder der rausgeht, muss einen Grund haben. Es wird mit Strafen gedroht. Ich lade eine Genehmignung von Computer runter und fülle sie aus. Draußen sein fühlt sich seltsam an. Vorsichtig schreite ich Richtung Stadtmauer. Eine unheilvolle Stille weit und breit. Ich atme die Luft in meine Lungen. Freiheit. Die Vögel zwitschern auf den Bäumen. Die Kirschbäume blühen. Auf der Stadtmauer laufen Menschen herum. Zum Glück bin ich nicht die Einzige. Ich gehe auf der Wiese lang, um nicht auf die anderen achten zu müssen. Ein wenig weiter finde ich einen Weg zwischen zwei Mauern, ohne Menschen. Dort wo die Vögel singen, das Gras wächst und die Sonne scheint, da komme ich wieder zu mir selbst. Glückstränen. Bin ich schon so psychisch labil?

Sperrzone Tag 4

Es ist Samstag. Ich sitze mit meinem Mann im Bett und frühstücke. Draußen ist das Wetter nicht so schön. Trotzdem wären wir normalerweise rausgefahren, irgendwohin, in die Appeninen, nach Bologna, nach Venedig, zu den Colli Euganei oder ans Meer. All diese Orte lagen nun unerreichbar entfehrnt. In den Colli Euganei waren die ersten Coronavirusfälle gefunden worden und Vò hatte unter Quaratäne gestanden. Jetzt gab es dort keinen Infizierten mehr.

Wir entschließen uns auf der Stadtmauer lang zu laufen, mit einer ausgefüllten Genehmigung. Einige Menschen sind dort unterwegs. Der Wind bläst mir ins Gesicht und ich fühle mich lebendig. Wir laufen wieder übers Gras, wo keine Menschen gehen. Noch nie habe ich die Stadtmauer so bewusst wahrgenommen. Nur wenige Autos fahren an der Hauptstraße vorbei. Die stille Stadt wird von den Vögeln zurückerobert, die ich jetzt überall hören. Die Baukronen rauschen und es macht mir nichts aus, dass es bald anfängt zu regnen.

Am Abend lese ich auf Whatsapp, dass alle Parks und die Stadtmauer geschlossen werden. Zu viele Menschen würden sich dort aufhalten. Du sollst zu Hause bleiben, wird immer wieder wiederholt. Mit Strafen wird gedroht. Drei alte Männer im Park sind angezeigt worden, weil sie Karten gespielt haben. In einer Whatsappgruppe wird diskutiert, was man darf und was nicht. Bewegung ist erlaubt, es gehört zu den Grundbedürfnissen. Trotzdem sollte man sie einschränken. Auf Facebook lese ich von Leuten, die mit Hundeattrappen durch die Stadt ziehen. Ich denke, wir werden langsam alle verrückt. Hunde ausführen gehört auch zu den Grundbedürfnissen.

Abends beim Fernsehen wird in der Werbung immer wieder BLEIB ZU HAUSE ausgestrahlt. Italien hat 17660 Infizerte, 2547 neue Fälle und 1268 Tote, davon sind 252 heute gestorben, die meisten in der Lombardei. Es läuft mir kalt den Rücken runter. Seit Anfang der Sonderbestimmungen werden die Toten nicht mehr begraben und auch Hochzeiten sind verboten.

Sperrzone Tag 5

Die Sonne scheint. Wir gehen raus. Wieder zur Stadtmauer. Sehen was passiert ist. Sie ist überall versperrt, auch an den kleinen Tretpfaden. Auf google Maps sehe ich, wie man am schnellsten aus der Stadt herauskommt. Zu Fuß. Wir laufen auf der Mitte der Straße. Ein seltsames Gefühl. Ferrara, als läge es im Dornröschenschlaf. Die Fenster der Wohnungen sind geöffnet, überall hört man Musik. An einem kleinen schäbigen Kanal endecken wir Schildkröten. Noch nie habe ich hier in Ferrara Schildkröten im Wasser gesehen. Kurz darauf fliegt ein ultramarinblauer Vögel vorbei. Sind wir noch in der gleichen Welt?

Ein Mann kommt mit Abfall aus seiner Wohnung. Er hat einen Schal vor dem Mund und eine Mütze auf. Es ist warm draußen. Schnell wirft er den Abfall weg und geht geduckt in seine Wohnung zurück.

Wir laufen über Felder immer weiter weg. Ich freue mich, dass die Stadtverwaltung die Mauer und die Parks zugemacht hat. Wir betreten Wege, die wir noch nie gesehen haben. Die Zeit ist ausgesetzt worden, sagt mein Mann. Niemand muss mehr rennen. Manchmal kommt jemand an uns vorbei, wir grüßen. Manche haben Angst, andere lächeln. Was ist eigentlich wichtig im Leben, fragen wir uns.

Ich bekomme Lust auf Pizza, aber die Pizzeria bei uns an der Ecke macht keinen Außendienst. Seit ein paar Tagen kochen wir viele ausgefallene Gerichte. Wir hatten am Freitag viel eingekauft, da wir eine halbe Stunde Schlange stehen mussten, bis wir in den Supermarkt kamen. Ich glaube, ich kaufe demnächst bei den kleinen Händlern ein. Bestimmt ist es gesünder, als so lange mit all den Leuten in der Schlange zu warten in dem halbveriegelten Einkaufzentrum. Die Leute halten Abstand, in vielen Gesichtern liest man Angst. Besonders bei den vermummten Leuten. Es gibt überall Desinfektionsmittel, aber so angenhem ist es mir trozdem nicht.

Abends um 18 Uhr mache ich auf dem Balkon Musik. Ein Aktion, die seit zwei Tagen in ganz Italien läuft. Ich spiele Akkordeon, eigentlich schon lange nicht mehr, aber nun hole ich das Instrument wieder heraus. Ich nehe ein Video davon auf und lade es auf Facebook. Meine Freunde bedanken sich bei mir. Noch nie habe ich so viele Likes und Kommentare bekommen. Ich spüre, wie wir alle zusammenrücken. Wir fragen uns gegenseitig, wie es uns geht. Von manchen habe ich schon lange nichts mehr gehört. Die Menschlichkeit scheint näher gerückt zu sein, während sich die Orte außerhalb unserer Stadt immer weiter entfernen. Alles, was nicht zu Fuß erreichbar ist, liegt jenseits der Grenzen.

Sperrzone Tag 7

Heute morgen lese ich auf Facebook, dass Leute, die auf der Straße spazieren gehen von anderen mit Fletschen angeschossen werden. Es gibt mitlerweile zwei Fraktionen: die eine hält sich seit mehr als zwei Wochen nur Zuhause auf und ist davon überzeugt, dass es verboten sei, draußen herumzulaufen, die andere Fraktion erklärt, dass Bewegung wie Fahrradfahren und Laufen wichtig sei, um das Immunsystem zu stärken, nur der Abstand zu den Mitmenschen müsse gewährleistet sein. Sich nicht mit anderen Menschen zu treffen, ist verboten. Viele gehen jetzt aus der Stadt heraus, da die Parks geschlossen sind. Überall sieht man kleine Punkte, alles Einzelgänger.

Ich nehme diesmal das Fahrrad, denn ich habe Angst als Spaziergängerin gebranntmarkt zu werden. Gestern Abend habe ich noch einmal die Verordungen gelesen. Spazierengehen ist nicht erlaubt aber körperliche Bewegung wie Fahradfahren und Laufen schon. Ich fühle mich immer mehr in einer kafkianischen Situation. Immer wieder sehe ich alte Leute auf der Straße. Sie dürfen sich nicht mehr auf die Bänke setzten. Eigentlich sollten sie zu Hause bleiben, da sie ihr Leben gefährden. Sind sie die Spaziergänger? Sind wir alle Spaziergänger? Was sind Spaziergänger und wer sind die Leute, die sich körperlich bewegen? Ein Dilemma. Attività fisica versus passeggiata.

Sperrzone Tag 6

Es ist Montag. Ich bin wieder alleine. Seitdem wir zur Sperrzone erklärt worden sind, wache ich zwei Stunden früher auf. Morgens gehen die Gedanken los. Banale Gedanken, was ich tun muss oder will und immer wieder die Angst, eine totale Ausgangsperre zu bekommen.

Der Postbote hat mir ein Nachricht hinterlassen, dass ich ein gerichtliches Einschreiben abholen muss. Er hat nicht geklingelt, obwohl ich zu Hause war. Vielleicht hatte er Angst, infiziert zu werden, denke ich. Warscheinlich geht es wieder um meinen Vermieter, der mich vor zehn Tagen angerufen hat, um mir zu sagen, dass die Bank all das Geld seiner Mieter einziehen wird. Ich war schon auf dem Rathaus deswegen, im Archiv, das mich an den Prozess von Kafka erinnert hatte. Ich gehe zur Post um die Ecke, aber sie ist geschlossen, wegen dem Coronavirus. Eine Nummer steht auf der Kommunikation. Ich rufe an. Die Nummer funktioniert nicht. Nur ein watteumhülltes Schweigen dringt aus dem Telefon.

Zu Hause sind wir noch voller Lebensmittel, nur die Milch fehlt. Ich laufe zu einem kleinen Spar um die Ecke. Er ist zum Glück leer. Die Kassiererin schaut mich böse an. Sie erwähnt, dass man nicht drei Mal pro Tag einkaufen gehen darf. Ich war schon seit drei Wochen nicht mehr in dem Geschäft. Ich habe aber auch keine Lust der Kassierin zu erklären, dass bei mir nur die Milch fehlte.

Am Nachmittag ist mein Mann zu Hause. Wir gehen wieder aus der Stadt hinaus, schauen bei den Schildkröten vorbei, die wir gestern in einem Kanal entdeckt haben und laufen wieder über die Felder. Auf der Straße zucke ich machmal zusammen. Es ist erlaubt draußen zu laufen, um sich fit zu halten, aber trotzdem habe ich Angst, dass sie vielleicht wieder die Gesetze geändert haben. Heute Nachmittag. Erst als wir auf freiem Feld sind, merke ich, dass sich die Muskeln in meinem Gesicht entspannen.