Sperrzone Tag 15

Es ist eisig kalt. Mir ist heute morgen ein wenig schwindelig. Ich raffe mich auf. Bewegung brauche ich, um meinen Kreislauf wieder in den Gang zu bringen. Ich ziehe mich dick an und bringe den Abfall raus. Danach drehe ich meine Bahnen. Sibirischer Wind knallt mir ins Gesicht. Drei andere Menschen mit Hunden sind unterwegs und ein Abfalldienst. Nach fünfzehn Minuten wärmt mein Körper. Ich laufe noch weiter fünf Minuten, dann gehe ich nach Hause zurück.

Bald ist Ostern. Ich schaue noch einmal auf den Kalender, um mich zu vergewissern. All die riesigen Ostereier aus Schokolade werden dieses Jahr in den Supermärkten vergammeln. Wem sollte man sie schenken. Bei meinem Nachbarn standen die anderen Jahre mindestens zehn Eier auf dem Wohnzimmerschrank. Und die vielen Colombakuchen, die überall während der Osterzeit verspeist werden? Und die Verlosungen von Esskörben in den Bars? Auch die werden dieses Jahr ausfallen.

Ich rufe bei der Post an, da im Fernsehen gesagt wurde, die Postämter seien auf. Die Post in meinem Viertel, wo mein Einschreiben liegt, ist immer noch geschlossen. Die Frau im Call-Center gibt mir eine andere Adresse. Ich fahre dorthin, mit dem Auto. Seit drei Wochen fahre ich kein Auto. An der Post gibt es keine Schlange, nur Menschen die wie abstoßende Atome zusammengewürfelt auf dem Parkplatz stehen. Mindestabstand zehn Meter. Wenn sich eine Person bewegt, bewegen sich die anderen mit, um den Abstand zu bewahren. Ich frage, wer der Letzte ist. Es dauert eine Zeit, bis eine vermummte Afrikanerin antwortet: „La signora li“, und zeigt auf eine Frau neben mir. Es ist kalt. Ich bewege mich auf der Stelle, um nicht zu frieren. Immer wieder kommen Leute und fragen, wer der Letzte ist. Eine Frau im Taillieur und mit Stöckelschuhen erscheint. In dieser Zeit eine irreale Erscheinung.

Sperrzone Tag 14

Heute ist mein Mann zu Hause. Er hat unsere Wohnung in ein Aufnahmestudio und in ein Theater verwandelt. Überall hängen und liegen Schilder, bunte Lichter, Noten, Musikinstrumente. Auch in meinem Bett sind nun grüne Strobolichter angebracht, auf der Kloschüssel stehen Zitate von den Ramones, ein kleines Schlagzeug steht auf der Komode. Als sollten hier Geister auftreten, an den Wänden, an der Decke oder aus der Kanalisation. Mein Mann ist verpfichtet worden, Ferien zu nehmen. Ich hoffe, er wird sich durchsetzten, damit ihm nicht die ganzen Ferien des Jahres abgenommen werden. Denn nach der Quarantäne möchte ich hier raus. Und das nicht allein.

„Wir müssen hier raus, das ist die Hölle
Wir leben im Zuchthaus
Wir sind geboren, um frei zu sein“

Ton Steine Scherben 1972

Das Militär soll eingesetzt werden, um die Leute zu kontrollieren. Menschen, die schon seit Wochen zu Hause sitzen, ohne an die frische Luft zu kommen, denunzieren andere, die sich die Beine vertreten. Es ist immer noch erlaubt, vor der Haustür spazieren zu gehen, aber trotzdem werden die, die draußen laufen, als Schuldige gebranntmarkt, auch wenn sie einen riesigen Abstand zueinander halten. Zum Glück lese ich nun immer mehr andere Meinungen. Die Arbeiter der Fabriken, die nicht notwendige Waren produzieren, wollen streiken. Auch sie haben ein Recht auf Unversehrtheit. Warum wird die Waffenproduktion eigentlich nicht eingestellt? Waffen sind nicht nötig, um Menschen gesund zu halten. Oder wollen sie den Virus mit Panzern oder Granaten erschießen? Dronen sollen eingesetzt werden, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Es ist mir unwohl heute. „Wir leben in einem Zuchthaus“, kommt mir wieder in den Sinn. Ich lese von Menschen, die sich das Leben nehmen, weil sie das Eingeschlossensein nicht mehr aushalten. Wissenschaftler warnen, dass die Isolation noch viel größere Schäden anrichten kann als das Virus selbst. Die Demokratie wird in Gefahr sein. Immer öfters lese ich in Posts, dass die Spaziergänger nicht die Gefahr sind. Dass der Virus nicht in der Luft hängt, sondern durch menschlichen Kontakt übertragen wird. Ich fühle mich eingesperrt. Ich will hier raus. Irgendwohin, weit weg, ins Gebirge, in den Wald, auf eine Insel. Zurück in die Vergangenheit, vor dem Coronavirus.

Zum Glück muss ich heute zur Bank. Auf dem Weg dorthin sehe ich weder Militär noch Polizei, nur ein Auto von den „Vigili Urbani“. Der Burgplatz ist Menschenleer. vor einem Supermarkt stehen die Leute Schlange, im Abstand von zehn Metern. Jeden Tag wird der selbstauferlegte Abstand größer. An der Bank wird mir ein Dokument rausgereicht, dass ich vorher telefonisch bestellt habe. Die Angestellte mit Mundschutzmaske kann nicht mehr lächeln. In ihrem Gesicht steht die Angst geschrieben.

Wieder zu Hause spiele ich mit meinem Mann Boccia im Garten. Dieser geschützte Raum spendet Geborgenheit. Ein kühler Wind weht, aber sie Sonne strahlt warm auf die Wiese. Ich beobachte die Schatten, die die Sonne durch die Bäume wirft.

(You Tube Video entfernt).

Sperrzone Tag 13

Jetzt sind es beinahe zwei Wochen, dass Italien zur roten Zone erklärt wurde. Heute morgen ist es kühl, aber der Himmel strahlt blau. Ich gehe um den Häuserblock spazieren. Fast nur noch wenige Leute mit Hunden sind unterwegs. Die Stille wird immer unwirklicher. Ich laufe mitten auf der Straße, damit ich niemanden ausweichen muss. Vier fünf Mal laufe ich um den Block. Ich sauge die Blätter der Bäume und den Wind in mich ein, bevor ich mich wieder in die Wohnung verkrieche. Immer wieder kommen mir Orte in den Sinn. Vor der Corona Krise waren sie banal gewesen, jetzt sind sie unerreichbar geworden. Orte, die zwei drei Wochen zurückliegen, als seien sie Ferienerinnerungen. Der Fahrradweg am Kanal, eine Straße in der Altstadt, ein Platz, ein Feld. Oder andere Orte, die noch weiter entfernt sind. An die sich meine Gedanken nur selten trauen. Hügel, Meer, Wald. Ach ja der Wald. Der Wald in den Appeninen. Unsere Wanderungen durch die Wildniss. Die hohen Kronen, der Geruch der Erde. Freiheit.

(You Tube Video entfernt)

Sperrzone Tag 12

Gestern sind in Italien an die achthundert Menschen an dem Virus gestorben. Nun darf man sich nur noch vor der Haustür die Beine vertreten, wenn es nötig ist. Ich vertrete mir die Beine und laufe die Straße auf und ab, neben den Bäumen lang. Zum Glück gibt es hier Bäume. Wieder höre ich die Vögel zwitschern. Zum Glück gibt es hier Vögel. Das Gras unter den Bäumen ist schon kniehoch. Ein alter Mann kommt mir entgegen. Ich weiche ihm aus und laufe auf der Mitte der Straße weiter. Es fahren sowieso keine Autos mehr. Als ich am Ende meiner Bahn ankomme, laufe ich zurück und begegne wieder dem Alten. Ich weiche ihm erneut aus. Ein Hund bellt am Fenster. Er steht mit den Beinen in einem Blumenkasten. Wie im Schwimmbad mache ich meine Bahnen. Eine halbe Stunde lang. Dann kehre ich nach Hause zurück. Ich spiele Devil Stick, ein akrobatisches Spiel, dass ich als Jugendliche gespielt habe. Ich habe es in der Abstellkammer im Garten gefunden.

Das Sein zum Tode hat Heidegger als einziges autentisches Dasein definiert. Erst, wenn man sich des Todes bewusst wird, existiert man als Ganzes. Die Angst vor dem Tode bringt den Menschen in Kontakt zu sich selbst. Vor dem Tod steht man allein. Nur, wenn man den Tod mit in Anbetracht zieht, stellt man sich all seiner Möglichkeiten.

Ich werde immer mehr zum Kind. Wahrnehmung der Planzen, der Wiese, der Boccia Kugeln im Garten. Nichts. Dem Nichts ins Auge sehen. Wieder kommen schlimme Nachrichten im Fernsehen. Ich versuche mich fallenzulassen. Vielleicht die einzige Möglichkeit. Unsere Welt ist klein geworden und zugleich riesig. Überall herrscht die Pandemie, aber das, was wir wahrnehmen ist unsere nächste Umgebung, die immer winziger wird.

Sperrzone Tag 11

Immer mehr erinnern mich meine Tage an meine Kindheit. Ich kann mich nur noch wenige Meter von der Haustür entfernen oder im Garten spielen. Ich schaue mir die Gärten meiner Nachbarn an. Ihre Pflanzen. Im Garten arbeite ich selbst am Blumenbeet. Ich hätte viel Zeit, um an meinem Roman zu arbeiten, aber mein Kopf ist leer. Die alltäglichen Grausamkeiten erdrücken. Heute Nachmittag sind Tote aus Bergamo in Ferrara angekommen. In Militärlastern. Sie werden ins Krematorium gebracht. Nicht alle Städte in Italien haben Krematorien. Draußen im Garten schreien sich die Nachbarskinder an. Sie schreien mehr, als dass sie spielen.

Sperrzone Tag 10

Ich frühstücke wie immer bei Morgengrauen und bereite mich für den Call vor der Webcam um acht vor. Papiere neben mir im Bett. Ich habe Schüttelfrost und messe mir wieder Fieber. 36.2. Vielleicht ist es bei mir umgekehrt, ich verliere an Temperatur. Ich habe Angst, krank zu sein. Um acht gehe ich in die Warteschleife. Diesemal kommt Musik. Für eine Stunde surfe ich im Internet, bis eine Frau auf dem Bildschirm erscheint. Ich liege im Bett, ungekämmt, aber das kann die Frau nicht wisssen. Ich gebe alle meine Daten durch und bestätige das, was sie vorliest. Bald ist ihr Spid aktiv, sagt am Ende die Frau. Ich gehe wieder auf eine Internet-Seite, um den Spid zu aktivieren. Doch der Computer legt lahm. Der Bildschirm wird schwarz. Mein Mann ruft an. „In allen Radio-Sendern ist die gleiche Musik.“ Seine Stimme klingt alarmiert. „Kannst du im Internet kontrollieren, was passiert ist?“, fragt er. Er besitzt kein Smartphone. „Mein Computer ist abgestürzt und ich werde mit der Internet-Seite der Vorsorge-Kasse verückt. Ich schau nachher nach, Ok?“

Ich frage mich, ob es den Aufwand wert ist, da ich ja noch nicht einmal sicher bin, das Geld überhaupt zu bekommen. Ich schaffe es, meinen Computer wieder in Gang zu setzten und finde Webseiten, auf denen ein Service angeboten wird, der meine getane Arbeit für fünfzig Euro anbietet. Dann lese ich woanders die Meldung, dieser Service sei nicht regulär. Man könne nur direkt über die Seite der Vorsorge-Kasse das Geld beantragen. Es sei ein Gerücht, dass nur die ersten das Geld bekommen. Um halb eins habe ich einen Spid und ich habe die Pin-Nummer an der Vorsorge-Kasse beantragt. Es wird sicher ein paar Tage dauern, bis sie für mich bereit steht, hoffentlich nicht zu lange.

Zum Mittag gehe ich mit meinem Mann einkaufen, eine meterlange Schlange. Wieder eine halbe Stunde warten. Die Leute stehen im Abstand zueinander. Hinter mir hustet und niest ein Mann. Ich schimpfe ihn an, er soll nicht so nah mit seinem Einkaufwagen an mich ranfahren. Er grinst wie ein Kind, auch wenn er sicher fünfzehn Jahre älter als ich ist. In den Gängen ist es manchmal schwer an den Leuten vorbeizukommen. Vor den Kirchererbsen stehen zwei alte Männer und schwätzen. Ich kaufe keine Kichererbsen. Gemüse, viel Gemüse, Erde und Blumen, Reis, Kekse, Käse, eine Maus für meinen Computer. Mein Mann kauft Wein und Joghurt.

Zuhause geht es mir besser. Ich fühle mich nicht mehr krank. Wir sitzten auf dem Balkon und schwätzen mit den Nachbarn. Die Frau im Haus nebenan hat zwei Katzen, eine schlanke rote und eine dicke gescheckte. Die dicke bleibt im Haus und blickt nur mit dem Kopf raus. Unten im Garten putzen eine Nachbarin und ihre Mutter den Staub von den Blättern der Pflanzen. „Man muss ja etwas tun,“sagt die Mutter. „Es ist eine Art Beschäftigungstherapie.“

Ich hole alte Bocciakugeln heraus und ich spiele mit meinem Mann im Garten. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich mit meinem Vater und mit meinem Bruder Boccia gespielt habe, in den Siebzgern und den frühen Achtzigern. Wir werden immer mehr zu Kindern.

Sperrzone Tag 9

Ich habe Kopfschmerzen. Ab heute darf man nur noch um den Häuserblock laufen. Wie immer seit der Corona-Krise bin ich schon viel früher wach. Ich sitze im Bett, frühstücke und lese die schlimmen Nachrichten aus aller Welt, die Zeitung vom gestern. In Syrien scheinen erste Coronafälle aufgetaucht zu sein. Sie werden versteckt. Was wird aus Afrika? Und Lateinamerika? Mit den Migranten, die immer noch an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland festsitzen, oder im Lager Moria in Lesbos?

Ich kontrolliere auf google Maps, wie weit ich laufen darf. Zum Glück ist die Stadtmauer in der Nähe. Auf die Stadtmauer kommt man zwar nicht mehr, aber von unten sieht man die Bäume.

Wie ein eingesperrter Tiger laufe ich mehrere Male neben der Stadtmauer hin und her, nach meinen getesten Entfernungen auf google Maps. Leute stehen auf dem Balkon. Ich habe das Gefühl ihre entrüsteten Blicke im Rücken zu spüren.

Ich fühle mich nicht gut. Mir ist kalt. Ich habe Schüttelfrost. Wieder Hypochondrie? Ich messe Fieber. 36.9, trotzdem nehme ich Paracetamol. Aus psychologischen Gründen. Italien hat aus der staatlichen Kasse für soziale Vorsorge den Selbständigen 600 Euro zugeteilt. Es soll bald einen Klick-Tag geben, an dem das Geld beantragt werden kann, aber es wird gemunkelt, das Geld würde nicht für alle reichen. Ich gehe auf die Internet-Seite der Vorsorge-Kasse und erfahre, dass ich nur Geld beantragen kann, wenn ich eine Pin-Nummer für soziale Leistungen beantragt habe. Ich habe in den zwanzig Jahren, in denen ich in Italien arbeite, noch nie Krankengeld beantragt und ich werde nicht die Einzige sein, der es so geht. Um überhaupt online mit dem Amt in Kontakt zu treten, brauche ich einen Spid, eine digitale Erkennung. Um einen Spid zu bekommen, muss ich 20 Euro bezahlen. Ich verbringe den ganzen Nachmittag zwischen Bergen von Papieren, die ich zum Glück alle in einer Kiste aufbewahrt habe, zwischen Pin-Nummern, Handy und Computer Erkennungen, weiteren Nummern, Otp, Pim Pum Pam…. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Eine Erkennung über Webcam läuft schief, da zu viele Menschen gleichzeitig in der Wartschlange sitzen. Nach weiteren anderthalb Stunden Warteschlange vor der Webcam gebe ich auf. Ich will es am nächsten Tag versuchen. Es ist fast 20 Uhr.

Ich messe Fieber. 37.1, oh je. Wieder hyperchondrische Ängste. Nach dem Abendessen bin ich so müde, dass ich auf dem Sofa einschlafe.

Sperrzone Tag 8

Mein Handy ist runtergefallen und ich habe einen Reparturdienst gefunden, wo ich vorbeifahren kann, mit dem Fahrrad, um 11. Ich soll an den Rolladen klopfen. Ich will auch an der Hauptpost vorbeifahren, um zu erfahren, wie ich an das gerichtliche Einschreiben kommen kann, da die Post in meinen Viertel geschlossen hat.

Auf der Haupteinkaufstraße sind so viele Leute unterwegs, dass es schwierig ist, Abstand zu halten, ein wahrer Slalom. Ein alter Mann sitzt auf einer Treppe und liest Zeitung. Eine alte Frau gestützt von ihrer Pflegerin schlürft zum Zeitungshändler. Auf den Steinlöwen am Dom sitzten afrikanische Fahradkuriere in der Pause und essen Brote. Ich gebe mein Handy beim Reparierdienst ab und fahre wieder zurück. Wieder im Slalom durch die Einkaufsstraße. Am Hauptplatz vor dem Dom fahren Reinigungsfarzeuge und versprühen eine übelriechende Substanz. Ich umfahre den Platz.

An der Post steht eine Schlange bis auf die Straße. Ich reihe mich ein. Ich habe eine gute Stunde Zeit.Die Leute schauen sich misstrauisch an, sie sprechen nicht miteinander. Normalerweise wären in so einer Situation eine große Disskussion ausgebrochen. Eine Postangestellte kommt heraus. Ich schreie ihr zu: „un informazione, prego.“ Ich erfahre von ihr, dass mein Eischreiben in der geschlossenen Post liegt, und dass ich es erst bekomme, wenn die Corona-Krise vorbei ist. „Warum werden dann überhaupt noch Einschreiben verschickt?“, frage ich die Postangestellte, „wenn man gar nicht an sie rankommt?“ Die Frau zuckt mit den Schultern. Ich fahre nach Hause.

Als ich anderthalb Stunden später wieder beim Reparaturdienst bin, merke ich, dass ich Geld und Papiere zu Hause gelassen habe. Der Mann gibt mir trotzdem das Handy. Ich soll ihm das Geld am Nachmittag bringen. Es ist mir nicht geheuer, ohne Papiere durch die Stadt zu fahren. Nur meine selbstgeschriebene Genehmigung habe ich in der Tasche. Ich fahre schneller.

In den Nachrichten erfahre ich, dass ab morgen niemand mehr Laufen oder Fahrradfahren darf, außer vor der Haustür. Ich will das letzte Mal die Natur draußen sehen und sie mir genau einprägen. Mein Mann und ich fahren auf die Felder hinaus.

Wie Kinder streunen wir über die Schütthügel, über die Gras gewachsen war. Wir entdecken einen kleinen Trampelpfad und laufen den Hügel hinauf, zwischen wilden Pflanzen hindurch. Fast wie in der Toskana, denke ich. Von oben blicken wir über die Ebene, die Felder und die Chemiefabrik in der Ferne. Kein Mensch ist zu sehen. Wir genießen die Stille. Die Vögel singen und unten an dem kleinen Kanal quaken Frösche. Ein warmer Frühlingstag. Wir setzen uns ins Gras. Hier sieht uns keiner. Niemand kann uns hier bestrafen.

Sperrzone Tag 7, abends

Immer mehr Menschen sterben in Bergamo. Die Ärzte und Pfleger sind infiziert, Altenheime, ganze Krankenhausstationen. Mir kommen beinahe die Tränen, als ich meinem Mann vom neusten Stand aus dieser gemarteten Stadt berichte. Jeden Tag berichten die Krankenhäuser aus ganz Italien über die Situation in den verschiedenen Gebieten. Ärzte aus China, Kuba und Venezuela sind eingeflogen, um zu helfen.

Die Leute aus meinem Deutschkurs sind zusammengerückt. Ich spüre eine größere Nähe unter ihnen, obwohl wir nur vor dem Bildschirm sitzen. „Wenn alles vorbei ist, gehen wir zusammen Pizza essen“, sagt jemand. „Ja, lasst uns Pizza essen gehen“, „Oh, ja, Pizza, wer weiß, wie lange das ganze noch dauert.“ „Sicher bis zum Sommer.“ „Auf alle Fälle werden wir zusammen Pizza essen.“ „Auch, im August,“ antworten die anderen. Pizza essen, zusammen… Eine Idee, ein Bild, eine Vorstellung, die sich immer weiter von mir entfernt. Auch die Filme, die ich mir abends zusammen mit meinem Mann ansehe, kommen mir irreal vor. Irreal, das Zusammensein, die vollen Straßen, wie schnell man sich umgewöhnt, denke ich mir.

Sperrzone Tag 2

Noch nie habe ich mich so gefreut, aufs Rathaus zu müssen, ein Dokument aus dem Stadtarchiv abholen. Ein Brief lag heute morgen im Briefkasten. Ich ziehe los. Gutgelaunt. Die Straßen sind leer. Draußen ist es warm. In der Bar an der Ecke trinke ich einen Kaffee. Die Leute diskutieren miteinander, halten dabei einen Meter Abstand. Sie sind aufgeschlosser als sonst. Ferrara ist eher für seine brummigen Eigenbrötler bekannt, aber heute ist es anders. Jeder wird miteinbezogen. Es komme kaum jemand mehr, sagte der Barmann, und außerdem müsse er höllisch aufpassen, dass die Leute den Abstand einhielten. Vorgestern sei ein alter Mann hereingekommen, der die Kunden angehustet hätte. Er hatte ihn gebeten, das Lokal zu verlassen und nach Hause zu gehen. Draußen sitzt ein älteres Paarchen am Tisch. Sie trinken Kaffee und rauchen. Die Frau hat eine heisere Stimme. Die beiden sitzen dort jeden Tag für Stunden. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, sitzen sie dort. Andere Stammkunden sehe ich nicht. Sie sind wohl zu Hause geblieben. Ich bezahle und gehe weiter. Die große Allee, die zum Schloss führt, ist leer. Eine junge Frau kommt an mir vorbei. Wir lächeln uns an. Am Rathausplatz sitzt nur ein Bettler. Auch innen ist es gähnend leer. Das Archiv liegt am Ende eine langen Ganges. Ich trete in einen großen Saal, in dem drei Frauen stehen, jede drei Meter von der anderen entfernt. Sie sprechen laut über Mundschutzmasken. Die Apoteken verkaufen sie nicht mehr und außerdem wird im Fernsehen gesagt, dass nur die Kranken Masken brauchen. Aber wenn man krank ist, dann sollte man doch gar nicht auf die Straße gehen, sagt eine der Frauen. Ich werde angewiesen, vor einer Tür zu warten. Als ein Mann herraukommt, darf ich eintreten. Wir blicken uns an und gehen in einem großen Bogen aneinader vorbei. Wir sind zu voneinander abstoßenden Kegeln geworden, wie in den Bildern von De Chirico, sagt mir später ein alter Mann in der Schlange beim Gemüsehändler. Im Archiv denke ich an den Prozess von Kafka. Staubige Kladden und Aktenordner, vier Beamte mit Mundschutzmasken. Es ist dunkel.

Am Abend gebe ich Deutschunterricht über Skype. Eine Gruppe von sieben Leuten. Einge sitzen im Wohnzimmer, andere in der Küche oder im Arbeitszimmer. Bei einer rumpelt eine riesige Katze herum. Bei einem anderen sieht man einen alten Wohnzimmerschrank aus den Siebzigern. Eine junge Frau schämt sich zu sprechen, weil ihre Eltern hinten auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Bei einem Mann sieht man viele Bücher im Regal. Ich versuche die Buchdeckel zu lesen, erkenne sie aber nicht richtig. Eine andere Frau hat einen uralten Computer, der durch die Skypeverbindung brummt. Die Leute sind wohlauf. Sie freuen sich über den Kontakt.