Sperrzone Tag 3

Heute morgen wache ich früh auf. Ich merke es gleich. Es ist nicht mehr so wie gestern. Ich stehe auf, gehe in die Küche und öffne das Fenster. Elstern hüpfen durch den Garten im Frühnebel. Frische Luft dringt ins Zimmer. Die Luft der Freiheit. Ich atmete sie tief ein. Die Elstern krächzen und springen im Garten herum. Ich koche Mokka und Bergtee. Mein Mann wundert sich, mich schon so früh auf den Beinen zu sehen. Er hat Glück. Er geht arbeiten, auf dem Damm am Fluss Po. Bei seinen Kontrollfahrten als Dammwart kann er sich frei bewegen. Ich spüre, wie meine Gemütsverfassung gegenüber dem Vortag den Bach runter gegangen ist. Gestern abend hat der Ministerpräsident Conte im Fernsehen erklärt, dass nun niemand mehr das Haus verlassen dürfe, außer für die wesentlichen Bedürfnisse, zum Arbeiten und zum Einkaufen. Die Bars und Restaurants sind geschlossen worden. Zu viele Leute hatten noch in den Bars herumgehockt, junge und alte. Vor allem für die alten Menschen sind die Bars Orte der Begegnung, an denen sie Neuigkeiten austauschen, Zeitung lesen, Karten spielen oder einfach nur rumsitzen und den Menschen zuschauen, die auf einen Kaffee vorbeikommen. Die Bars sind viele kleine Herzen der italienischen Städte. Ich überlegte mir, wie ich meinen Körper fit halten kann, ohne auf die Straße zu gehen. Heute wird es warm. Der Pflaumenbaum blüht. Natürlich kann ich noch in den Garten gehen, aber dort wie ein Gefangener tausend Schritte im Kreis tun? So weit bin ich noch nicht. Ich lese in Facebook, dass Spazierengehen verboten ist und dass man dafür auch bestraft werden kann. Man darf nur mit einer selbstgeschriebenen Berechtigung vor die Tür und nur im Notfall, zum Einkaufen, zum Arzt oder zur Apotheke. Mein Mann verabschiedet sich von mir. Ich beneide ihn. Im Garten blühen die Narzissen und die Veilchen. Ich fühle mich niedergeschlagen. Es ist ein Frühling, der wohl vorbeigehen wird, ohne ihn genießen zu können. Das Nichts dringt immer weiter vor, von Tag zu Tag einen kleinen Schritt weiter.

Ich lese eine Erklärung zu den Anordnungen der Regierung und erfahre, dass man doch spazieren gehen darf. Es fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich fühle mich seit heute morgen, wie ein eingesperrter Tiger. Jeder der rausgeht, muss einen Grund haben. Es wird mit Strafen gedroht. Ich lade eine Genehmignung von Computer runter und fülle sie aus. Draußen sein fühlt sich seltsam an. Vorsichtig schreite ich Richtung Stadtmauer. Eine unheilvolle Stille weit und breit. Ich atme die Luft in meine Lungen. Freiheit. Die Vögel zwitschern auf den Bäumen. Die Kirschbäume blühen. Auf der Stadtmauer laufen Menschen herum. Zum Glück bin ich nicht die Einzige. Ich gehe auf der Wiese lang, um nicht auf die anderen achten zu müssen. Ein wenig weiter finde ich einen Weg zwischen zwei Mauern, ohne Menschen. Dort wo die Vögel singen, das Gras wächst und die Sonne scheint, da komme ich wieder zu mir selbst. Glückstränen. Bin ich schon so psychisch labil?

Sperrzone Tag 4

Es ist Samstag. Ich sitze mit meinem Mann im Bett und frühstücke. Draußen ist das Wetter nicht so schön. Trotzdem wären wir normalerweise rausgefahren, irgendwohin, in die Appeninen, nach Bologna, nach Venedig, zu den Colli Euganei oder ans Meer. All diese Orte lagen nun unerreichbar entfehrnt. In den Colli Euganei waren die ersten Coronavirusfälle gefunden worden und Vò hatte unter Quaratäne gestanden. Jetzt gab es dort keinen Infizierten mehr.

Wir entschließen uns auf der Stadtmauer lang zu laufen, mit einer ausgefüllten Genehmigung. Einige Menschen sind dort unterwegs. Der Wind bläst mir ins Gesicht und ich fühle mich lebendig. Wir laufen wieder übers Gras, wo keine Menschen gehen. Noch nie habe ich die Stadtmauer so bewusst wahrgenommen. Nur wenige Autos fahren an der Hauptstraße vorbei. Die stille Stadt wird von den Vögeln zurückerobert, die ich jetzt überall hören. Die Baukronen rauschen und es macht mir nichts aus, dass es bald anfängt zu regnen.

Am Abend lese ich auf Whatsapp, dass alle Parks und die Stadtmauer geschlossen werden. Zu viele Menschen würden sich dort aufhalten. Du sollst zu Hause bleiben, wird immer wieder wiederholt. Mit Strafen wird gedroht. Drei alte Männer im Park sind angezeigt worden, weil sie Karten gespielt haben. In einer Whatsappgruppe wird diskutiert, was man darf und was nicht. Bewegung ist erlaubt, es gehört zu den Grundbedürfnissen. Trotzdem sollte man sie einschränken. Auf Facebook lese ich von Leuten, die mit Hundeattrappen durch die Stadt ziehen. Ich denke, wir werden langsam alle verrückt. Hunde ausführen gehört auch zu den Grundbedürfnissen.

Abends beim Fernsehen wird in der Werbung immer wieder BLEIB ZU HAUSE ausgestrahlt. Italien hat 17660 Infizerte, 2547 neue Fälle und 1268 Tote, davon sind 252 heute gestorben, die meisten in der Lombardei. Es läuft mir kalt den Rücken runter. Seit Anfang der Sonderbestimmungen werden die Toten nicht mehr begraben und auch Hochzeiten sind verboten.

Sperrzone Tag 5

Die Sonne scheint. Wir gehen raus. Wieder zur Stadtmauer. Sehen was passiert ist. Sie ist überall versperrt, auch an den kleinen Tretpfaden. Auf google Maps sehe ich, wie man am schnellsten aus der Stadt herauskommt. Zu Fuß. Wir laufen auf der Mitte der Straße. Ein seltsames Gefühl. Ferrara, als läge es im Dornröschenschlaf. Die Fenster der Wohnungen sind geöffnet, überall hört man Musik. An einem kleinen schäbigen Kanal endecken wir Schildkröten. Noch nie habe ich hier in Ferrara Schildkröten im Wasser gesehen. Kurz darauf fliegt ein ultramarinblauer Vögel vorbei. Sind wir noch in der gleichen Welt?

Ein Mann kommt mit Abfall aus seiner Wohnung. Er hat einen Schal vor dem Mund und eine Mütze auf. Es ist warm draußen. Schnell wirft er den Abfall weg und geht geduckt in seine Wohnung zurück.

Wir laufen über Felder immer weiter weg. Ich freue mich, dass die Stadtverwaltung die Mauer und die Parks zugemacht hat. Wir betreten Wege, die wir noch nie gesehen haben. Die Zeit ist ausgesetzt worden, sagt mein Mann. Niemand muss mehr rennen. Manchmal kommt jemand an uns vorbei, wir grüßen. Manche haben Angst, andere lächeln. Was ist eigentlich wichtig im Leben, fragen wir uns.

Ich bekomme Lust auf Pizza, aber die Pizzeria bei uns an der Ecke macht keinen Außendienst. Seit ein paar Tagen kochen wir viele ausgefallene Gerichte. Wir hatten am Freitag viel eingekauft, da wir eine halbe Stunde Schlange stehen mussten, bis wir in den Supermarkt kamen. Ich glaube, ich kaufe demnächst bei den kleinen Händlern ein. Bestimmt ist es gesünder, als so lange mit all den Leuten in der Schlange zu warten in dem halbveriegelten Einkaufzentrum. Die Leute halten Abstand, in vielen Gesichtern liest man Angst. Besonders bei den vermummten Leuten. Es gibt überall Desinfektionsmittel, aber so angenhem ist es mir trozdem nicht.

Abends um 18 Uhr mache ich auf dem Balkon Musik. Ein Aktion, die seit zwei Tagen in ganz Italien läuft. Ich spiele Akkordeon, eigentlich schon lange nicht mehr, aber nun hole ich das Instrument wieder heraus. Ich nehe ein Video davon auf und lade es auf Facebook. Meine Freunde bedanken sich bei mir. Noch nie habe ich so viele Likes und Kommentare bekommen. Ich spüre, wie wir alle zusammenrücken. Wir fragen uns gegenseitig, wie es uns geht. Von manchen habe ich schon lange nichts mehr gehört. Die Menschlichkeit scheint näher gerückt zu sein, während sich die Orte außerhalb unserer Stadt immer weiter entfernen. Alles, was nicht zu Fuß erreichbar ist, liegt jenseits der Grenzen.

Sperrzone Tag 7

Heute morgen lese ich auf Facebook, dass Leute, die auf der Straße spazieren gehen von anderen mit Fletschen angeschossen werden. Es gibt mitlerweile zwei Fraktionen: die eine hält sich seit mehr als zwei Wochen nur Zuhause auf und ist davon überzeugt, dass es verboten sei, draußen herumzulaufen, die andere Fraktion erklärt, dass Bewegung wie Fahrradfahren und Laufen wichtig sei, um das Immunsystem zu stärken, nur der Abstand zu den Mitmenschen müsse gewährleistet sein. Sich nicht mit anderen Menschen zu treffen, ist verboten. Viele gehen jetzt aus der Stadt heraus, da die Parks geschlossen sind. Überall sieht man kleine Punkte, alles Einzelgänger.

Ich nehme diesmal das Fahrrad, denn ich habe Angst als Spaziergängerin gebranntmarkt zu werden. Gestern Abend habe ich noch einmal die Verordungen gelesen. Spazierengehen ist nicht erlaubt aber körperliche Bewegung wie Fahradfahren und Laufen schon. Ich fühle mich immer mehr in einer kafkianischen Situation. Immer wieder sehe ich alte Leute auf der Straße. Sie dürfen sich nicht mehr auf die Bänke setzten. Eigentlich sollten sie zu Hause bleiben, da sie ihr Leben gefährden. Sind sie die Spaziergänger? Sind wir alle Spaziergänger? Was sind Spaziergänger und wer sind die Leute, die sich körperlich bewegen? Ein Dilemma. Attività fisica versus passeggiata.

Sperrzone Tag 6

Es ist Montag. Ich bin wieder alleine. Seitdem wir zur Sperrzone erklärt worden sind, wache ich zwei Stunden früher auf. Morgens gehen die Gedanken los. Banale Gedanken, was ich tun muss oder will und immer wieder die Angst, eine totale Ausgangsperre zu bekommen.

Der Postbote hat mir ein Nachricht hinterlassen, dass ich ein gerichtliches Einschreiben abholen muss. Er hat nicht geklingelt, obwohl ich zu Hause war. Vielleicht hatte er Angst, infiziert zu werden, denke ich. Warscheinlich geht es wieder um meinen Vermieter, der mich vor zehn Tagen angerufen hat, um mir zu sagen, dass die Bank all das Geld seiner Mieter einziehen wird. Ich war schon auf dem Rathaus deswegen, im Archiv, das mich an den Prozess von Kafka erinnert hatte. Ich gehe zur Post um die Ecke, aber sie ist geschlossen, wegen dem Coronavirus. Eine Nummer steht auf der Kommunikation. Ich rufe an. Die Nummer funktioniert nicht. Nur ein watteumhülltes Schweigen dringt aus dem Telefon.

Zu Hause sind wir noch voller Lebensmittel, nur die Milch fehlt. Ich laufe zu einem kleinen Spar um die Ecke. Er ist zum Glück leer. Die Kassiererin schaut mich böse an. Sie erwähnt, dass man nicht drei Mal pro Tag einkaufen gehen darf. Ich war schon seit drei Wochen nicht mehr in dem Geschäft. Ich habe aber auch keine Lust der Kassierin zu erklären, dass bei mir nur die Milch fehlte.

Am Nachmittag ist mein Mann zu Hause. Wir gehen wieder aus der Stadt hinaus, schauen bei den Schildkröten vorbei, die wir gestern in einem Kanal entdeckt haben und laufen wieder über die Felder. Auf der Straße zucke ich machmal zusammen. Es ist erlaubt draußen zu laufen, um sich fit zu halten, aber trotzdem habe ich Angst, dass sie vielleicht wieder die Gesetze geändert haben. Heute Nachmittag. Erst als wir auf freiem Feld sind, merke ich, dass sich die Muskeln in meinem Gesicht entspannen.